Evolution des strategischen Managements
Digital-Unternehmen haben die erste Entwicklungsstufe des markt- und finanzorientierten strategischen Managements mit einer zweiten Stufe verbunden, die durch Technologie und Innovation geprägt ist. Bereits vor der Entstehung des strategischen Managements ist eine solche Konnektivität grundlegender Orientierungen ein Erfolgsfaktor der europäischen Hidden Champions gewesen. In der Fähigkeit zur Verbindung liegt auch gegenwärtig eine Chance für die europäische Industrie, die sich ausgehend von ihren traditionellen Stärken neu in Richtung auf Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Resilienz ausrichten muss.
In diesem Blogpost erläutere ich die Grundlagen und Charakteristika der ersten beiden Entwicklungsstufen des strategischen Managements und gehe auf die Rolle der generativen Künstlichen Intelligenz (KI) als Game Changer ein.
Verbindung von Strategie 1.0 und 2.0
Fast jedes zweite deutsche Unternehmen befürchtet, dass eine Deindustrialisierung des Standorts Deutschlands kaum noch aufzuhalten ist und dieser weiter an Attraktivität verliert. Das ist das ernüchternde Ergebnis einer Studie des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Nach Meinung der Befragten sei die Lage so schlecht wie schon lange nicht mehr.1
Natürlich ist dies vor allem ein Weckruf an die Politik. Daneben stellt sich aber die Frage, wie Unternehmen ihr strategische Managements an ein verändertes Umfeld anpassen können.
Aufgabe des strategischen Managements als interdisziplinäres Fachgebiet ist es, die Unternehmensentwicklung zu gestalten und neue Herausforderungen zu meistern. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft grundlegend verändert. Die sich daraus ergebende Evolution des strategischen Managements gliedern wir in fünf Entwicklungsstufen.2 Zwischen diesen Stufen gibt es vielfältige Wechselwirkungen und Rückkopplungen. Gegenwärtig von besonderer Bedeutung ist die Verbindung zwischen der Strategie 1.0 und der Strategie 2.0. Eine wichtige Rolle spielen dabei Digital-Unternehmen.3
Vier grundlegende Orientierungen
Das strategische Management hat sich seit den 1960er Jahren aus der strategischen Planung entwickelt.4 Bereits lange vorher lag eine Stärke der wenig bekannten europäischen Weltmarktführer in ihrer Verbindung der Technologie-, Innovations-, Markt- und Finanzorientierung. Bis heute sind die vier grundlegenden Orientierungen bei diesem Unternehmenstyp auf spezifische, wissensintensive Geschäftsfelder fokussiert.5 Dies hat zum hohen Ansehen des German Engineering in der Welt beigetragen.
Der Siegeszug der ersten Entwicklungsstufe eines markt- und finanzorientierten strategischen Managements begann hingegen in diversifizierten US-amerikanischen Großunternehmen. Ein wichtiger Nutzen für die Verantwortlichen lag in der integrativen Sicht betrieblicher Funktionen und der Unterstützung von Portfolio-Entscheidungen. In den 1970er Jahren erreichte diese neuen Managementlehre deutsche Großunternehmen. Parallel dazu gewannen Funktionalstrategien an Bedeutung. Die Strategieumsetzung scheiterte aber häufig an einer von der Personalführung nicht bewältigten Komplexität.
Technologie- und Innovationsaspekte spielten in dieser ersten Stufe eine untergeordnete Rolle. Daher war die Verbreitung des strategischen Managements bei europäischen Hidden Champions und im Mittelstand eher gering. Dies hat mich Ende der 1970er Jahre bewogen, mit einer Promotion zum strategischen Technologie-Management zu beginnen. Interessanterweise befand sich in dieser Zeit die US-amerikanische Industrie in einer tiefen Krise.6 In meiner Dissertation habe ich eine ressourcenorientierte Methodik für die Entstehung von Technologiestrategien entwickelt und damit einen Beitrag zur zweiten Entwicklungsstufe eines technologie- und innovationsorientierten strategischen Managements geleistet.7 Dabei war eine wichtige Erkenntnis, dass erfolgreiche Innovationssysteme von Unternehmen aus verbundenen Handlungsfeldern bestehen. Bei deren Gestaltung kommt es auf die Fähigkeit an, die Entstehung und Umsetzung von Strategien mit einer unternehmerischen Kultur zu verbinden.8
In Europa weniger erfolgreich verlaufen ist die Erschließung des Potenzials digitaler Querschnittstechnologien. So waren es letztlich US-amerikanische Start-ups, die im Rahmen von verschiedenen Digitalisierungswellen die erste und die zweite Entwicklungsstufe des strategischen Managements zusammengeführt haben. Auf diese Weise sind die heute wertvollsten Unternehmen der Welt entstanden. Die Abbildung veranschaulicht die vier Orientierungen, die die ersten beiden Entwicklungsstufen des strategischen Managements verbinden.
Im folgenden möchte ich die Grundlagen und Charakteristika dieser beiden Entwicklungsstufen näher erläutern.
Markt- und finanzorientiertes strategisches Management
Die Ursprünge des Strategiebegriffs liegen im militärischen Sektor. Eine frühe Übertragung auf die Wirtschaft erfolgte an der Harvard Business School, wo man 1911 einen Kurs zum Thema Business Policy startete, um eine Klammer für die betriebswirtschaftlichen Funktionslehren zu schaffen. Schwerpunkt der Unternehmenspolitik sind die Themen Vision und Mission.9 Eine weitere Grundlage der ersten Stufe ist der Blick in mögliche Zukünfte, was der Begriff Foresight umschreibt.10 In dieser Entstehungsphase hat das strategische Management allmählich die bis dahin verbreitete Langfristplanung verdrängt. Allerdings ist das strategische Management nie ein homogenes Konzept gewesen. Relativ früh sind verschiedene Schulen entstanden, die die Vielzahl möglicher Strategieprozesse beschreiben. Dabei ist der analytische Prozess nur eine der Varianten.11
Im Mittelpunkt der ersten Entwicklungsstufe des strategischen Managements (Strategie 1.0) steht der Fokus auf Wettbewerbsvorteile in Absatzmärkten.12 Das übergeordnete Ziel ist eine Steigerung des Unternehmenswertes für die Anteilseigner.13 Gegen diese dominierende Shareholder-Value-Sicht konnte sich die Stakeholder-Theorie zunächst nicht durchsetzen. Einen starken Einfluss auf die praktische Strategiearbeit hatte die durch Wissenschaftler und Managementberatungen geprägte Positionierungsschule, die die Strategieentwicklung als primär analytischen Prozess betrachtet. Eine populäre Methode ist die aus heutiger Sicht relativ mechanistisch erscheinende Portfolio-Analyse strategischer Geschäftselder.14
Der Hauptkritikunkt an der Strategie 1.0 ist, dass es mit dem primär analytischen Vorgehen allein nicht gelingt, Umsetzungsprobleme zu meistern. Zu einem Scheitern der Strategie-Implementierung tragen die Top-down-Vorgehensweise und die schwierige Harmonisierung von Funktionalstrategien bei. Trotz der Kritik ist diese erste Entwicklungsstufe vor allem in etablierten Großunternehmen lange Zeit weit verbreitet gewesen. Sie steht auch immer noch im Mittelpunkt der Lehre vieler Hochschulen, die zwischen den Fächern strategisches Management und Technologie- und Innovationsmanagement unterscheiden.
Technologie- und innovationsorientiertes strategisches Management
Die zweite, technologie- und innovationsorientierte Stufe des strategischen Managements basiert stärker auf Unternehmertum. Daher liefert für eine Strategie 2.0 die Entrepreneurship-Forschung eine wichtige Grundlage.15 In den USA haben die Finanzierung von Start-ups durch Venture Capital16 und das Corporate Venture Management viel früher an Bedeutung gewonnen als in Europa.17 Eine weitere wichtige Grundlage ist die ganzheitliche Designtheorie, die der Wirtschaftsnobelpreisträger Herbert Simon geprägt hat.18 Von den betriebswirtschaftlichen Funktionslehren behandeln vor allem das Forschungs- und Entwicklungs-(F&E) Management19 und das Produktionsmanagement20 technologische Themen.
Seit den 1980er Jahren hat sich die zweite Stufe des strategischen Managements sehr dynamisch in verschiedenen Phasen entwickelt.21 Der Fokus liegt dabei auf Technologien und Innovationsvorteilen. Das Technologie- und Innovationsmanagement integriert klassische Managementaufgaben in einem systemorientierten Ansatz.22 Hervorzuheben ist dabei die Bedeutung der Personalführung, Kultur und Organisation. Die Aufgabe von Innovationsmanagern liegt in der Gestaltung der verbundenen Handlungsfelder des Innovationssystems ihres Untenehmens.23 Diese systemorientierte Betrachtung von Handlungsfeldern bildet für die beteiligten Akteure einen gemeinsamen Rahmen. Die Evolution eines solchen offenen, komplexen Systems ergibt sich aus der Interaktion der Akteure mit ihrem Umfeld. In den letzten Jahrzehnten hat die Bedeutung von neuen Geschäftsmodellen24 und einer innovationsfördernden Kultur25 stark zugenommen. Dabei haben zunächst vor allem Start-ups mit agilen Methoden das Potenzial digitaler Technologien genutzt.26
Aus diesen Start-ups sind die US-amerikanischen Digital-Giganten hervorgegangen, deren Marktmacht teilweise auch kritisch gesehen wird. Für etablierte Unternehmen stellen der digitale Wandel und die damit verbundene Abhängigkeit von IT-Unternehmen eine große Herausforderung dar.27 In der folgenden Abbildung ist die zeitliche Entwicklung des technologie- und innovationsorientierten strategischen Managements zusammengefasst.
Eine neue Digitalisierungswelle geht von der generativen Künstlichen Intelligenz (KI) mit großen Sprachmodellen aus, die Produktivitätsvorteile und veränderte Formen der Wissensarbeit ermöglicht. Im Juni 2024 ist der KI-Ausrüster Nvidia kurzfristig das wertvollste börsenorientierte Unternehmen der Welt geworden.28 In dieser aktuellen Welle könnten die Karten zwischen Unternehmen und Wirtschaftsblöcken neu gemischt werden. Es stellt sich die Frage, wie Europa die sich hieraus ergebenden Risiken meistern kann.
Die generative KI als Game Changer für Europa
Als wir 2020 unser Buch Das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz als Game Changer publiziert haben, war der gegenwärtige Hype um die generative KI noch nicht absehbar. Im letzten Kapitel des Buchs setzen wir uns kritisch mit der europäischen und der deutschen Innovationspolitik auseindander.29 Eine spannende Frage ist, inwieweit die generative KI zu einer erfolgreichen Neuausrichtung der deutschen Wirtschaft beiträgt oder ihren weiteren Niedergang beschleunigt. Beides erscheint möglich. Daher befindet sich unser Land an einem Wendepunkt.
Aus der Erfolgsgeschichte der europäischen Hidden Champions können wir lernen, dass es entscheidend auf eine Verbindung der Sektoren Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft sowie der strategischen Handlungsfelder von Unternehmen ankommt. Unsere Empfehlung ist daher zu versuchen, eine Kultur der Verbundenheit zurückzugewinnen. Wichtig wäre es, dass alle Beteiligten einen entsprechenden Mindset entwickeln. Den sollten die Eliten vorleben und hoffen, dass die Bürgerinnen und Bürger ihrem Beispiel folgen. Die Aus- und Weiterbildung zum Thema Cultural Connectedness kann hierzu einen Beitrag leisten.
Fazit
– Der Erfolg von Digital-Unternehmen resultiert aus der Verbindung der ersten und der zweiten Entwicklungsstufe des strategischen Managements
– Ein Problem der ersten markt- und finanzorientierten Stufe ist die Komplexitätsbewältigung bei der Strategieumsetzung
-Den Digital-Champions gelingt es besser als etablierten Unternehmen, das Potenzial der Informationstechnik zu nutzen und die verbundenen Handlungsfelder ihrer Innovationssysteme erfolgreich zu gestalten
– Mit dem Thema generative Künstliche Intelligenz (KI) hat bei der Verbindung von Strategie 1.0 und 2.0 ein neues Kapitel begonnen
Literatur
[1] Höpner, A., „Deindustrialisierung kann kaum noch aufgehalten werden“. In: Handelsblatt, 18.Juni 2024, S.18
[2] Servatius, H.G., Strategie 5.0 zur Bewältigung der neuen Herausforderungen. In: Competivation Blog, 28.06.2022
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