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Evolution des strategischen Managements

Evolution des strategischen Managements

Digital-Unternehmen haben die erste Entwicklungsstufe des markt- und finanzorientierten strategischen Managements mit einer zweiten Stufe verbunden, die durch Technologie und Innovation geprägt ist. Bereits vor der Entstehung des strategischen Managements ist eine solche Konnektivität grundlegender Orientierungen ein Erfolgsfaktor der europäischen Hidden Champions gewesen. In der Fähigkeit zur Verbindung liegt auch gegenwärtig eine Chance für die europäische Industrie, die sich ausgehend von ihren traditionellen Stärken neu in Richtung auf Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Resilienz ausrichten muss.

In diesem Blogpost erläutere ich die Grundlagen und Charakteristika der ersten beiden Entwicklungsstufen des strategischen Managements und gehe auf die Rolle der generativen Künstlichen Intelligenz (KI) als Game Changer ein.

 

Verbindung von Strategie 1.0 und 2.0

Fast jedes zweite deutsche Unternehmen befürchtet, dass eine Deindustrialisierung des Standorts Deutschlands kaum noch aufzuhalten ist und dieser weiter an Attraktivität verliert. Das ist das ernüchternde Ergebnis einer Studie des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Nach Meinung der Befragten sei die Lage so schlecht wie schon lange nicht mehr.1

Natürlich ist dies vor allem ein Weckruf an die Politik. Daneben stellt sich aber die Frage, wie Unternehmen ihr strategische Managements an ein verändertes Umfeld anpassen können.

Aufgabe des strategischen Managements als interdisziplinäres Fachgebiet ist es, die Unternehmensentwicklung zu gestalten und neue Herausforderungen zu meistern. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft grundlegend verändert. Die sich daraus ergebende Evolution des strategischen Managements gliedern wir in fünf Entwicklungsstufen.2 Zwischen diesen Stufen gibt es vielfältige Wechselwirkungen und Rückkopplungen. Gegenwärtig von besonderer Bedeutung ist die Verbindung zwischen der Strategie 1.0 und der Strategie 2.0. Eine wichtige Rolle spielen dabei Digital-Unternehmen.3

 

Vier grundlegende Orientierungen

Das strategische Management hat sich seit den 1960er Jahren aus der strategischen Planung entwickelt.4 Bereits lange vorher lag eine Stärke der wenig bekannten europäischen Weltmarktführer in ihrer Verbindung der Technologie-, Innovations-, Markt- und Finanzorientierung. Bis heute sind die vier grundlegenden Orientierungen bei diesem Unternehmenstyp auf spezifische, wissensintensive Geschäftsfelder fokussiert.5 Dies hat zum hohen Ansehen des German Engineering in der Welt beigetragen.

Der Siegeszug der ersten Entwicklungsstufe eines markt- und finanzorientierten strategischen Managements begann hingegen in diversifizierten US-amerikanischen Großunternehmen. Ein wichtiger Nutzen für die Verantwortlichen lag in der integrativen Sicht betrieblicher Funktionen und der Unterstützung von Portfolio-Entscheidungen. In den 1970er Jahren erreichte diese neuen Managementlehre deutsche Großunternehmen. Parallel dazu gewannen Funktionalstrategien an Bedeutung. Die Strategieumsetzung scheiterte aber häufig an einer von der Personalführung nicht bewältigten Komplexität.

Technologie- und Innovationsaspekte spielten in dieser ersten Stufe eine untergeordnete Rolle. Daher war die Verbreitung des strategischen Managements bei europäischen Hidden Champions und im Mittelstand eher gering. Dies hat mich Ende der 1970er Jahre bewogen, mit einer Promotion zum strategischen Technologie-Management zu beginnen. Interessanterweise befand sich in dieser Zeit die US-amerikanische Industrie in einer tiefen Krise.6 In meiner Dissertation habe ich eine ressourcenorientierte Methodik für die Entstehung von Technologiestrategien entwickelt und damit einen Beitrag zur zweiten Entwicklungsstufe eines technologie- und innovationsorientierten strategischen Managements geleistet.7 Dabei war eine wichtige Erkenntnis, dass erfolgreiche Innovationssysteme von Unternehmen aus verbundenen Handlungsfeldern bestehen. Bei deren Gestaltung kommt es auf die Fähigkeit an, die Entstehung und Umsetzung von Strategien mit einer unternehmerischen Kultur zu verbinden.8

In Europa weniger erfolgreich verlaufen ist die Erschließung des Potenzials digitaler Querschnittstechnologien. So waren es letztlich US-amerikanische Start-ups, die im Rahmen von verschiedenen Digitalisierungswellen die erste und die zweite Entwicklungsstufe des strategischen Managements zusammengeführt haben. Auf diese Weise sind die heute wertvollsten Unternehmen der Welt entstanden. Die Abbildung veranschaulicht die vier Orientierungen, die die ersten beiden Entwicklungsstufen des strategischen Managements verbinden.

Lernprozess Innovationsstrategie

Im folgenden möchte ich die Grundlagen und Charakteristika dieser beiden Entwicklungsstufen näher erläutern.

 

Markt- und finanzorientiertes strategisches Management

Die Ursprünge des Strategiebegriffs liegen im militärischen Sektor. Eine frühe Übertragung auf die Wirtschaft erfolgte an der Harvard Business School, wo man 1911 einen Kurs zum Thema Business Policy startete, um eine Klammer für die betriebswirtschaftlichen Funktionslehren zu schaffen. Schwerpunkt der Unternehmenspolitik sind die Themen Vision und Mission.9 Eine weitere Grundlage der ersten Stufe ist der Blick in mögliche Zukünfte, was der Begriff Foresight umschreibt.10 In dieser Entstehungsphase hat das strategische Management allmählich die bis dahin verbreitete Langfristplanung verdrängt.  Allerdings ist das strategische Management nie ein homogenes Konzept gewesen. Relativ früh sind verschiedene Schulen entstanden, die die Vielzahl möglicher Strategieprozesse beschreiben. Dabei ist der analytische Prozess nur eine der Varianten.11

Lernprozess Innovationsstrategie

Im Mittelpunkt der ersten Entwicklungsstufe des strategischen Managements (Strategie 1.0) steht der Fokus auf Wettbewerbsvorteile in Absatzmärkten.12 Das übergeordnete Ziel ist eine Steigerung des Unternehmenswertes für die Anteilseigner.13 Gegen diese dominierende Shareholder-Value-Sicht konnte sich die Stakeholder-Theorie zunächst nicht durchsetzen. Einen starken Einfluss auf die praktische Strategiearbeit hatte die durch Wissenschaftler und Managementberatungen geprägte Positionierungsschule, die die Strategieentwicklung als primär analytischen Prozess betrachtet. Eine populäre Methode ist die aus heutiger Sicht relativ mechanistisch erscheinende Portfolio-Analyse strategischer Geschäftselder.14

Der Hauptkritikunkt an der Strategie 1.0 ist, dass es mit dem primär analytischen Vorgehen allein nicht gelingt, Umsetzungsprobleme zu meistern. Zu einem Scheitern der Strategie-Implementierung tragen die Top-down-Vorgehensweise und die schwierige Harmonisierung von Funktionalstrategien bei. Trotz der Kritik ist diese erste Entwicklungsstufe vor allem in etablierten Großunternehmen lange Zeit weit verbreitet gewesen. Sie steht auch immer noch im Mittelpunkt der Lehre vieler Hochschulen, die zwischen den Fächern strategisches Management und Technologie- und Innovationsmanagement unterscheiden.

 

Technologie- und innovationsorientiertes strategisches Management

Die zweite, technologie- und innovationsorientierte Stufe des strategischen Managements basiert stärker auf Unternehmertum. Daher liefert für eine Strategie 2.0 die Entrepreneurship-Forschung eine wichtige Grundlage.15 In den USA haben die Finanzierung von Start-ups durch Venture Capital16 und das Corporate Venture Management viel früher an Bedeutung gewonnen als in Europa.17 Eine weitere wichtige Grundlage ist die ganzheitliche Designtheorie, die der Wirtschaftsnobelpreisträger Herbert Simon geprägt hat.18 Von den betriebswirtschaftlichen Funktionslehren behandeln vor allem das Forschungs- und Entwicklungs-(F&E) Management19 und das Produktionsmanagement20 technologische Themen.

Lernprozess Innovationsstrategie

Seit den 1980er Jahren hat sich die zweite Stufe des strategischen Managements sehr dynamisch in verschiedenen Phasen entwickelt.21 Der Fokus liegt dabei auf Technologien und Innovationsvorteilen. Das Technologie- und Innovationsmanagement integriert klassische Managementaufgaben in einem systemorientierten Ansatz.22 Hervorzuheben ist dabei die Bedeutung der Personalführung, Kultur und Organisation. Die Aufgabe von Innovationsmanagern liegt in der Gestaltung der verbundenen Handlungsfelder des Innovationssystems ihres Untenehmens.23 Diese systemorientierte Betrachtung von Handlungsfeldern bildet für die beteiligten Akteure einen gemeinsamen Rahmen. Die Evolution eines solchen offenen, komplexen Systems ergibt sich aus der Interaktion der Akteure mit ihrem Umfeld. In den letzten Jahrzehnten hat die Bedeutung von neuen Geschäftsmodellen24 und einer innovationsfördernden Kultur25 stark zugenommen. Dabei haben zunächst vor allem Start-ups mit agilen Methoden das Potenzial digitaler Technologien genutzt.26

Aus diesen Start-ups sind die US-amerikanischen Digital-Giganten hervorgegangen, deren Marktmacht teilweise auch kritisch gesehen wird. Für etablierte Unternehmen stellen der digitale Wandel und die damit verbundene Abhängigkeit von IT-Unternehmen eine große Herausforderung dar.27 In der folgenden Abbildung ist die zeitliche Entwicklung des technologie- und innovationsorientierten strategischen Managements zusammengefasst.

Lernprozess Innovationsstrategie

Eine neue Digitalisierungswelle geht von der generativen Künstlichen Intelligenz (KI) mit großen Sprachmodellen aus, die Produktivitätsvorteile und veränderte Formen der Wissensarbeit ermöglicht. Im Juni 2024 ist der KI-Ausrüster Nvidia kurzfristig das wertvollste börsenorientierte Unternehmen der Welt geworden.28 In dieser aktuellen Welle könnten die Karten zwischen Unternehmen und Wirtschaftsblöcken neu gemischt werden. Es stellt sich die Frage, wie Europa die sich hieraus ergebenden Risiken meistern kann.

 

Die generative KI als Game Changer für Europa

Als wir 2020 unser Buch Das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz als Game Changer publiziert haben, war der gegenwärtige Hype um die generative KI noch nicht absehbar. Im letzten Kapitel des Buchs setzen wir uns kritisch mit der europäischen und der deutschen Innovationspolitik auseindander.29 Eine spannende Frage ist, inwieweit die generative KI zu einer erfolgreichen Neuausrichtung der deutschen Wirtschaft beiträgt oder ihren weiteren Niedergang beschleunigt. Beides erscheint möglich. Daher befindet sich unser Land an einem Wendepunkt.

Aus der Erfolgsgeschichte der europäischen Hidden Champions können wir lernen, dass es entscheidend auf eine Verbindung der Sektoren Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft sowie der strategischen Handlungsfelder von Unternehmen ankommt. Unsere Empfehlung ist daher zu versuchen, eine Kultur der Verbundenheit zurückzugewinnen. Wichtig wäre es, dass alle Beteiligten einen entsprechenden Mindset entwickeln. Den sollten die Eliten vorleben und hoffen, dass die Bürgerinnen und Bürger ihrem Beispiel folgen. Die Aus- und Weiterbildung zum Thema Cultural Connectedness kann hierzu einen Beitrag leisten.

 

Fazit

– Der Erfolg von Digital-Unternehmen resultiert aus der Verbindung der ersten und  der zweiten Entwicklungsstufe des strategischen Managements

– Ein Problem der ersten markt- und finanzorientierten Stufe ist die Komplexitätsbewältigung bei der Strategieumsetzung

-Den Digital-Champions gelingt es besser als etablierten Unternehmen, das Potenzial der Informationstechnik zu nutzen und die verbundenen Handlungsfelder ihrer Innovationssysteme erfolgreich zu gestalten

– Mit dem Thema generative Künstliche Intelligenz (KI) hat bei der Verbindung von Strategie 1.0 und 2.0 ein neues Kapitel begonnen

 

Literatur

[1] Höpner, A., „Deindustrialisierung kann kaum noch aufgehalten werden“. In: Handelsblatt, 18.Juni 2024, S.18

[2] Servatius, H.G., Strategie 5.0 zur Bewältigung der neuen Herausforderungen. In: Competivation Blog, 28.06.2022

[3] Servatius, H.G., Personalführung im Zeitalter eines Connective Managements. In: Competivation Blog, 19.01.2021

[4] Ansoff, I.H., Declerck, R.P., Hayes, R.L. (Hrsg.), From Strategic Planning to Strategic Management, John Wiley 1976

[5] Simon, H., Hidden Champions des 21.Jahrhunderts –  Die Erfolgsstrategien unbekannter Weltmarktführer, Campus 2007

[6] Hayes, R.H., Wheelwright, S.C., Restoring Our Competitive Edge – Competing Through Manufacturing, John Wiley 1984

[7] Servatius, H.G., Methodik des strategischen Technologie-Managements – Grundlage für erfolgreiche Innovationen, Erich Schmidt 1985

[8] Schein, E.H., Organizational Culture and Leadership – A Dynamic View, Jossey Bass 1986

[9] Bleicher, K., Das Konzept Integriertes Management, Campus 1991

[10] Müller, A.W., Müller-Stewens, G., Strategie Foresight –  Trend- und Zukunftsforschung in Unternehmen –  Instrumente, Prozesse, Fallstudien, Schäffer Poeschel 2009

[11] Mintzberg, H., Ahlstrand, B., Lampel, J., Strategy Safari – Eine Reise durch die Wildnis des strategischen Managements, Ueberreuter 1999

[12] Porter, M.E., Competitive Strategy – Techniques for Analyzing Industries and Competititors, The Free Press 1980

[13] Rappaport A., Creating Shareholder Value – The New Standard for Business Performance, The Free Press 1986

[14] Kirsch, W., Roventa, P. (Hrsg.), Bausteine des Strategischen Managements – Dialoge zwischen Wissenschaft und Praxis, De Gruyter, 1983

[15] Ronstadt, R.C., Entrepreneurship – Text, Cases and Notes, Lord Publishing 1984

[16] Gladstone, D.J., Venture Capital Handbook – An Entrepreneur’s Guide to Obtaining Capital To Start a Business, Buy a Business, Or Expand An Existing Business, Reston Publishing 1983

[17] Servatius, H.G., New Venture Management – Erfolgreiche Lösung von Innovationsproblemen für Technologie-Unternehmen, Gabler 1988

[18] Simon, H.A., The Sciences of the Artificial, 2.Aufl., MIT Press 1981 (1.Aufl. 1969)

[19] Brockhoff, K., Forschung und Entwicklung – Planung und Kontrolle, Oldenbourg 1988

[20] Zäpfel, G., Strategisches Produktionsmanagement, De Gruyter Oldenbourg 2000

[21] Zahn, E. (Hrsg.), Handbuch Technologie-Management, Schäffer-Poeschel 1995

[22] Servatius, H.G., Piller, F.T. (Hrsg.), Der Innovationsmanager – Wertsteigerung durch ein ganzheitliches Innovationsmanagement, Symposion 2014

[23] Servatius, H.G., Dreifache strategische Neuausrichtung, In: Competivation Blog, 07.06.2024

[24] Osterwalder, A., Pigneur, Y., Business Model Generation – A Handbook for Visionaries, Game Changers, and Challengers, Wiley 2010

[25] Mc Afee, A., The Geek Way – The Radical Mindset That Drives Extraordinary Results, Macmillan Business 2023

[26] Ries, E., The Lean Startup – How Today’s Entrepreneurs Use Continuous Innovation to Create Radically Successful Businesses, Crown Currency 2011

[27] Rogers, D.L., The Digital Transformation Roadmap – Rebuild Your Organization for Continuous Change, Columbia Business School Publishing 2023

[28] Brüntjen, J.S., Narat, I., Maisch, M., Kursbebeben erschüttert Nvidia. In: Handelsblatt, 26.Juni 2024, S.30-31

[29] Kaufmann, T. Servatius, H.G., Das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz als Game Changer – Wege zu einem Management 4.0 und einer digitalen Architektur, Springer Vieweg 2020, S.203 ff.

Dreifache strategische Neuausrichtung

Dreifache strategische Neuausrichtung

Gegenwärtig stehen viele Unternehmen vor der Aufgabe, digitaler, nachhaltiger und resilienter zu werden. Ein Beispiel für diese dreifache strategische Neuausrichtung liefert die Automobilindustrie. Der notwendige komplexe Prozess erfordert den Wandel eines Systems verbundener Handlungsfelder. Es stellt sich die Frage, wie es Unternehmen gemeinsam mit der Politik, Wissenschaft und Gesellschaft gelingen kann, einen derartigen Prozess zu meistern.

 

In diesem Blogpost erläutere ich den Unterschied zwischen den Begriffen Transformation und Neuausrichtung und begründe, warum das Transformationskonzept auf einem nicht mehr zeitgemäßen Managementverständnis basiert, das leider immer noch weit verbreitet ist.

 

Automobilunternehmen, die digitaler, nachhaltiger und resilienter werden müssen

Etablierte Automobilunternehmen befinden sich in der fünften Entwicklungsstufe eines verbindenden strategischen Managements,1 in der sie digitaler, nachhaltiger und resilienter werden müssen. Für eine solche dreifache Neuausrichtung (Triple Realignment) liefern die Managementtheorie und -praxis bislang kaum Anleitungen. Immer deutlicher wird aber, dass die Vorstellung von einer umfassenden, befristeten Transformation illusionär ist und nicht zu den gewünschten Ergebnissen führt.

Als wir 1994 unser Buch zum ökologischen Umsteuern von Automobilunternehmen publiziert haben, hätten wir nicht gedacht, dass die Mobilitätswende in Deutschland so lange dauert.2 Letztlich ist eine strategische Neuausrichtung auf nachhaltige Antriebsformen erst als Reaktion auf den Druck der Politik und des Wettbewerbs erfolgt. Die traditionellen Unternehmen der Branche befinden sich heute in einer Bedrohungslage, die von disruptiven Stakeholder-Ökosystemen ausgeht.3 Sie sind auf der Suche nach geeigneten Antworten und stellen sich auf einen komplexen Wandel mit verschiedenen Optionen ein.

Die Digitalisierung als zweites wichtiges Feld einer Neuausrichtung wird vor allen von den großen Tech-Konzernen und von Start-ups getrieben. Sie ist in verschiedenen Wellen verlaufen und betrifft sowohl das Produkt Automobil als auch wesentliche Geschäftsprozesse. Digitale Technologien haben den Charakter von Game Changern, was spätestens seit dem Hype um die generative Künstliche Intelligenz (KI) einer breiten Öffentlichkeit bewusst geworden ist.4 Auch in diesem Feld kommt es entscheidend auf die Gestaltung von innovativen Stakeholder-Ökosystemen an. Dabei eröffnet eine vertrauenswürdige KI für Europa durchaus Chancen.

Parallel zu diesen Entwicklungen hat mit den geopolitischen Krisen die Bedeutung einer resilienzorientierten Neuausrichtung zugenommen.5 Im Mittelpunkt steht dabei eine Verbesserung der Widerstandskraft westlicher Unternehmen in den verschiedenen Stufen der Wertschöpfung. Relevante Felder sind Rohstoffe, Batterien, Halbleiter und KI-Anwendungen. So ist z.B. der führende US-Chiphersteller Nvidia stark von dem taiwanesischen Auftragsfertiger TSMC abhängig.6 Das Beispiel zeigt, dass diese dritte Dimension einer Neuausrichtung zwar mit den anderen Dimensionen verbunden ist, aber spezifische Ansätze erfordert.

Die folgende Abbildung veranschaulicht die drei Dimensionen einer Neuausrichtung. Die spezifischen Ansätze betreffen die Übergänge

– von analog zu digitaler, aber auch vertrauenswürdig

– von primär finanzorientiert zu nachhaltiger, aber realistisch und

– von abhängig zu resilienter im Sinne von widerstandsfähig.

Für die europäische Wirtschaft und Politik ist dies eine zentrale Herausforderung der nächsten Jahre.

Lernprozess Innovationsstrategie

Hierzu ist es wichtig, den Unterschied zwischen dem weit verbreiteten Begriff Transformation und dem Begriff Neuausrichtung zu verstehen.

 

Unterschied zwischen Transformation und Neuausrichtung

Der Begriff Transformation hat eine längere Entwicklungsgeschichte. Bereits 1944 verwendet ihn Karl Polanyi als politischen Kampfbegriff, um seiner Forderung nach einem Wandel des kapitalistischen Systems Ausdruck zu verleihen.7 In den 1990er Jahren verstehen Consultants unter dem Begriff Transformation von Organisationen einen umfassenden Wandel.8 Damit streben sie eine Abgrenzung von dem als zu mechanistisch empfundenen Reengineering-Konzept an. Heute ist Transformation zu einem Schlagwort mit unklarem Inhalt geworden. Deutlich wird dies am Beispiel des aktuellen Begriffs Twin Transformation, der suggeriert, dass der digitale und der grüne Wandel einen Zwillingscharakter hätten.9

Um Ordnung in diese Begriffsunklarheiten zu bringen, unterscheiden wir beim Wandel von Organisationen zwischen einer zeitlichen und einer inhaltlichen Dimension. Als Transformation bezeichnen wir einen zeitlich befristeten, umfassenden Wandel. Damit rückt eine Transformationsaufgabe in die Nähe der Sanierung und wird von vielen Managementberatern inzwischen auch in diesem Sinne interpretiert. Demgegenüber verstehen wir unter einer Neuausrichtung einen längerfristig orientierten, spezifischen Wandel z.B. mit den Schwerpunkten Digitalisierung, Nachhaltigkeit oder Resilienz.

Lernprozess Innovationsstrategie

Die Vorstellung, eine digitale Transformation sei kurzfristig und umfassend möglich, unterschätzt die Komplexität der Aufgabe. Wir halten diese Vorstellung für illusionär. Eine solche Transformationsillusion ist die Ursache für viele Fehlschläge.

Der Begriff der Ausrichtung (Alignment) eines Unternehmens beschreibt eine gut abgestimmte Verbindung wichtiger Systemelemente (z.B. Geschäftsmodell, Strategie, Innovation, Kernkompetenzen, Organisation, IT-Systeme, Kultur und Stakeholder) im Hinblick auf eine gemeinsame Vision und einen Sinn. Im Verlauf ihrer Entwicklung ist in vielen Unternehmen ein solches Alignment verloren gegangen und gleichzeitig stellt sich die Aufgabe einer Neuausrichtung im Sine eines Realignments.10

Ausgehend von diesen Definitionen möchte ich im folgenden der Frage nachgehen, worin die Komplexität einer dreifachen Neuausrichtung besteht und mit welcher Vorgehensweise Unternehmen diese Komplexität bewältigen können.

 

Komplexität einer dreifachen Neuausrichtung

Eine zentrale Erkenntnis ist, dass die Komplexität einer dreifachen Neuausrichtung in der Verbindung verschiedener Handlungsfelder liegt. Dieses Triple Realignment erfordert den Wandel eines komplexen Systems. Die Transformationsillusion besteht in der Annahme, ein solcher Wandel sei mit Hilfe einer einmaligen Top-down-Planung möglich. Dieses mechanistische Strategie-Paradigma ist überholt und inzwischen von einem neuen Paradigma verdrängt worden, in dessen Zentrum die Bewältigung von Komplexität steht.11 In der Abbildung sind wichtige Handlungsfelder einer solchen Neuausrichtung dargestellt.

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In den vergangenen sechzig Jahren ist die Entwicklung des strategischen Managements in fünf Stufen verlaufen. Eine Strategie 5.0 verbindet die Entwicklungsstufen. Unternehmen bewältigen diese Konnektivität in verschiedenen Handlungsfeldern. Eine wichtige Rolle spielt dabei die gemeinsame Vision als Klammer für eine Innovations-, Nachhaltigkeits- und Resilienzstrategie. Aus diesen Strategien ergeben sich die Schwerpunkte einer Neuausrichtung der Geschäftsmodelle.

Ein zweites Handlungsfeld ist die Reaktion auf oder Gestaltung von disruptiven Stakeholder-Ökosystemen. Dabei ist das Forschungs- und Entwicklungs (F&E-) Management von Unternehmen gemeinsam mit Akteuren aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft auf das Erreichen von Wettbewerbsvorteilen bei innovativen Technologien gerichtet.

Handlungsfeld Nummer drei ist die digitale, nachhaltige und resiliente Wertschöpfung. Ein aktuelles Thema ist hierbei gegenwärtig die Produktivitätssteigerung mit KI-basierten Geschäftsprozessen und wissensintensiven Anwendungen. Dieses Thema betrifft nahezu alle Branchen und Unternehmensgrößen.

Die Bewältigung dieser Handlungsfelder erfordert einen Wandel der Personalführung und Kultur sowie die Entwicklung von neuen Kompetenzen. Wichtige Impulse zur Komplexitätsbewältigung gehen dabei von einer verbindenden Führung mit agilen Methoden aus, die Start-ups und Digital-Champions konsequenter umgesetzt haben als etablierte Unternehmen.

Hierbei besteht ein enger Zusammenhang zum Wandel der Organisation, der IT-Architektur und des Projektmanagements. Etablierten Unternehmen fällt es schwer, das bei Digital-Champions entstandene Konzept einer Plattform-Organisation mit agilen Teams auf ihre eigene Situation zu übertragen.

Handlungsfeld Nummer sechs ist die Wertsteigung mit einer finanziellen und nicht-finanziellen Berichterstattung. Viele Unternehmen beschränken sich auf ein reaktives Vorgehen zur Erfüllung von neuen Nachhaltigkeitsrichtlinien. Sinnvoller erscheint es, das Thema Nachhaltigkeit als Innovationschance zu sehen.

Ein Erfolg versprechendes Vorgehen bei dieser dreifachen Neuausrichtung, das verschiedene Handlungsfelder verbindet, geht von einer Gliederung in Phasen und Lernschleifen aus. Dieses Vorgehen unterscheidet sich grundlegend von starren Roadmap-Konzepten,12 die in der Literatur weit verbreitet, in der Praxis aber häufig gescheitert sind.

 

Vorgehen bei einer dreifachen Neuausrichtung

Eine Gliederung des Vorgehens bei komplexen Aufgaben in Phasen und Lernschleifen basiert auf dem Modell des Action Learning, das auch die Grundlage für agile Methoden bildet. Ähnlich wie bei der Skalierung agiler Teams liegt die Herausforderung hier darin, die gesamte Organisation in einem iterativen Prozess zusammenzuführen. In der Praxis hat es sich bewährt, jede der Lernschleifen in die in der Abbildung dargestellten sechs Phasen zu gliedern.

Lernprozess Innovationsstrategie

Am Anfang einer Neuausrichtung steht die Analyse der spezifischen Ausgangssituation des Unternehmens verbunden mit einem Blick in die Zukunft (Foresight). Ein besonderes Augenmerk sollte dabei auf der Früherkennung möglicher radikaler Veränderungen liegen. Dies erfordert eine ausgeprägte kontextuelle Intelligenz, um die Komplexität externer Entwicklungen richtig einzuschätzen.

In einer nächsten Phase stellt sich die Aufgabe, für die dreifache Neuausrichtung eine Vision zu entwickeln. Ein Auslöser kann die Notwendigkeit sein, Krisen zu meistern und Resilienz zurückzugewinnen. Sinn stiftend wirkt dabei für viele Unternehmen das Thema Nachhaltigkeit. Dabei liefern digitale Technologien das Potenzial für eine Erneuerung. Entscheidend ist, die Mitarbeitenden in diesen Prozess einzubeziehen und glaubwürdig eine Aufbruchsstimmung zu vermitteln, die die positive Energie für die nachfolgenden Phasen liefert.

Die Vision bildet den Rahmen für eine Priorisierung der Dimensionen digital, nachhaltig und resilient sowie der Handlungsfelder einer Neuausrichtung. In einer ersten Lernschleife bearbeitet das Unternehmen die Herausforderungen mit der höchsten Priorität. Die Erledigung von geringer priorisierten Aufgaben erfolgt nach dem gleichen Muster in späteren Lernschleifen. Dieses iterative Vorgehen leistet einen wichtigen Beitrag zur Komplexitätsbewältigung. Häufig bewertet die Führung nach jeder Lernschleife die aktuelle Situation des Unternehmens und seines Umfelds neu.

In vielen Unternehmen scheitert eine dreifache Neuausrichtung an dem vorhandenen Governance-Modell. Dabei verstehen wir unter Governance das Zusammenspiel von Personalführung, Kultur, Organisation und Kontrolle. Der Aufsichtsrat muss sicherstellen, dass die Governance für den Wandel dieses komplexen Systems geeignet ist und entsprechende Maßnahmen ergreifen, wenn dies nicht der Fall ist. Daher ist diese vierte Phase für den Gesamterfolg von entscheidender Bedeutung. Ein falsch verstandenes Transformationskonzept trägt dazu bei, dass sich die Wahrscheinlichkeit eines gemeinsames Versagens von Aufsichtsgremium, Führung, Mitarbeitenden und externen Beratern erhöht. Dabei kann es möglich sein, dass vor der Neuausrichtung eine Sanierung erforderlich ist. Wichtig ist, dies dann aber auch klar zu kommunizieren und sich nicht hinter einem vage formulierten Transformationsbegriff zu verstecken.

Eine weitere wichtige Hürde ist die Umsetzung in Form von Programmen und Projekten, die in Phase fünf erfolgt. Hierbei hat sich die Koordination der Handlungsfelder mit Hilfe eines agilen und transparenten Performance Managements bewährt. Ein geeigneter Ansatz ist die Objectives and Key Results (OKR-) Methode. Diese wird von Start-ups und erfolgreichen Digital-Giganten erfolgreich angewendet, stößt in etablierten Unternehmen aber immer noch häufig auf die Barrieren einer Silo-Kultur. Insofern baut der Erfolg der einzelnen Phasen aufeinander auf. Ohne eine geeignete Governance in Phase vier wird die Koordination der Handlungsfelder nicht gelingen. Daher sind bei diesem Prozess die Rückkopplungen von großer Bedeutung.

Die sechste und letzte Phase ist die Personalentwicklung in Form eines spezifischen Handlungslernen von Vielen. Angesichts der zunehmenden Bedeutung der generativen KI stehen Unternehmen zunehmend vor der Frage, wie sie während einer laufenden digitalen Neuausrichtung die Weiterbildung vieler Mitarbeitender gestalten sollen. Da es in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte nichts Vergleichbares gegeben hat, sind hier neue Wege gefragt. Diese müssten schon bei der Schulausbildung beginnen. Leider hat Deutschland das weitgehend verschlafen und steht nun vor einer Weiterentwicklung seines Bildungssystems. Hierauf kann die Wirtschaft aber nicht warten und muss beim Thema Personalentwicklung selbst die Initiative ergreifen.

Unsere praktische Erfahrung zeigt, dass diese Vorgehensweise den Charakter eines Rahmenkonzepts hat, das jedes Unternehmen an seine spezifische Situation anpassen muss. Wir unterstützen Führungskräfte bei dieser Anpassung, indem wir Beratung mit Personalentwicklung verknüpfen. Auf diese Weise erreichen wir für unsere Klienten ein besseres Preis-Leistungsverhältnis als beim klassischen Management Consulting.

 

Fazit

  • Unternehmen müssen gegenwärtig eine dreifache strategische Neuausrichtung  meistern und sowohl digitaler als auch nachhaltiger und resilienter   werden
  • Dabei verstehen wir unter dem Begriff Neuausrichtung einen längerfristig orientierten, spezifischen Wandel
  • Die Komplexität einer dreifachen Neuausrichtung besteht in der Bearbeitung verschiedener Handlungsfelder, die miteinander verbunden sind
  • Bei dieser Form des Wandels hat sich einer iterativer Prozess bewährt, der in Phasen und Lernschleifen gegliedert ist

 

Literatur

[1] Servatius, H.G., Strategie 5.0 zur Bewältigung der neuen Herausforderungen. In: Competivation Blog, 28.06.2022

[2] Berger, R., Servatius, H.G., Krätzer, A., Die Zukunft des Autos hat erst begonnen – Ökologisches Umsteuern als Chance, Pieper 1994

[3] Servatius, H.G., Gestaltung von innovativen Stakeholder-Ökosystemen. In: Competivation Blog, 10.01.2023

[4] Kaufmann, T., Servatius, H.G., Das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz als Game Changer – Wege zu einem Management 4.0 und einer digitalen Architektur, SpringerVieweg 2020

[5] Servatius, H.G., Resilienzorientiertes strategisches Management. In: Competivation Blog, 15.03.2023

[6] Hofer, J. et al., NvidiasTaiwan-Risiko. In: Handelsblatt, 28.Mai 2024, S.1, 4-5

[7] Polanyi, K., The Great Transformation – Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Suhrkamp 1973

[8] Goullart, F.J., Kelly, J.N., Transforming the Organization, Mc Graw Hill 1995

[9] Christmann, A.S., et al., The Twin Transformation Butterfly. In: Business Information Systems Engineering, 23.Januar 2024

[10] Trevor, J., Re:Align – A Leadership Blueprint for Overcoming Disruption and Improving Performance, Bloomsbury 2022

[11] Servatius, H.G., Mit einer Strategie 5.0 zu Erfolgen bei Digital GreenTech. In: Fesidis, B., Röß, S.A., Rummel, S.(Hrsg.), Mit Digitalisierung und Nachhaltigkeit zum klimaneutralen Unternehmen, SpringerGabler 2023, S.71-94

[12] Rogers, D.L., The Digital Transformation Roadmap – Rebuild Your Organization for Continuous Change, Columbia Business School Publishing 2023

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