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Entwicklung der KI-Technologien

Entwicklung der KI-Technologien

Zwischen der aktuellen Bedeutung des Themas Künstliche Intelligenz und der KI-Kompetenz der meisten Menschen besteht eine große Diskrepanz. Diese verbreitete Know-how-Lücke reicht von Schülern und Lehrern bis zu Führungskräften und Politikern. Daher erscheint es wichtig, sich mit der Entwicklung und dem aktuellen Stand der KI-Technologien zu beschäftigen, die bereits vor knapp 70 Jahren entstanden sind, was Vielen nicht bekannt ist.

Dieser neue Blogpost ist die Fortsetzung unserer Reihe zu Wettbewerbsvorteilen mit einer wissensspezifischen Künstlichen Intelligenz. Hierin skizziere ich die Wurzeln der KI-Technologien und erläutere den Hype und die Ernüchterung bei großen Sprachmodellen.

 

Schulungsoffensive ausgehend vom AI Act

Der AI Act der Europäischen Union fordert von Unternehmen, dass sie ihren Mitarbeitenden praktisches Know-how zur Funktionsweise und den Einsatzmöglichkeiten von KI sowie den Chancen und Grenzen der Technologie vermitteln müssen. Diese EU-Verordnung 2024/1689 ist in Deutschland am 2. Februar 2025 in Kraft getreten.1 Für einzelne Nutzergruppen wie z.B. IT-, Rechts-, Personal- und operative Einheiten können spezifische Trainingsmodule notwendig sein, die auf das vorhandene Wissensniveau auszurichten sind. Darüber hinaus erscheint es sinnvoll, die Vermittlung von KI-Know-how an die jeweilige Situation des Unternehmens anzupassen. Ein Einstieg sind Kenntnisse zur Entwicklung der Künstlichen Intelligenz (KI) und ihrer verschiedenen Technologien.

 

Von der symbolischen KI und neuronalen Netzen zu „KI-Wintern“

Die Künstliche Intelligenz hat in ihrer langen Entwicklungsgeschichte eine Reihe von Höhen und Tiefen erlebt. In den Computerwissenschaften der 1950er Jahre sind bei dem Versuch, Maschinen zu entwickeln, die menschliche Intelligenz nachahmen, zwei Herangehensweisen entstanden:2

  • Die symbolische KI basiert auf programmierbaren Regeln und einer systematischen Logik mit dem Ziel, Wissen zu repräsentieren und daraus Schlussfolgerungen abzuleiten. Dabei versucht man, ein reales Problem durch die Programmierung von Symbolen und ihren Beziehungen  
  • Angeregt durch die Vernetzung des Gehirns streben neuronale Netze an, Lernprozesse zu simulieren, indem sie Verbindungen zwischen künstlichen Neuronen nutzen. Diese Methode stützt sich auf ein datengetriebenes maschinelles Lernen, um Muster und Zusammenhänge zu finden.

Als Geburtsstunde der Künstlichen Intelligenz gilt das von Wissenschaftlern wie John McCarthy und Marvin Minsky 1956 initiierte Dartmouth-Sommer-Forschungsprojekt, bei dem die symbolische KI im Mittelpunkt stand. Diese bildet die Grundlage für Expertensysteme, die versuchen, Regeln und Entscheidungsketten in Computercode zu übersetzen. Deren Verfechter haben aber die Komplexität des Gehirns unterschätzt, was in den 1970er Jahren zum ersten „KI-Winter“ führte.

Das erste neuronale Netz konzipierte der Psychologe Frank Rosenblatt, der in Dartmouth nicht dabei war, ebenfalls bereits 1956. Inspiriert durch die Arbeit von Rosenblatt entwickelte der Physiologe, kognitive Psychologe und Informatiker Geoffrey Hinton 1986 an der Universität von Toronto ein mehrschichtiges neuronales Netz und einen Algorithmus, der es dem System ermöglichte, aus seinen Rechenfehlern zu lernen. Diese Methode der Fehlerrückverteilung (Backpropagation) führte zu einer Verfeinerung der Antworten. Sie bildete den Durchbruch für die neuronalen Netze. Allerdings reichte die Rechenleistung für große Datenmengen nicht und noch vor der Jahrtausendwende kam es zu einem zweiten „KI-Winter“.

 

Deep Learning

Eine Verbesserung der Hardware erreichte man mit den superschnellen Chips der Grafikprozessoren (Graphics Processing Units GPU), die der US-Halbleiterhersteller Nvidia zunächst für Videospiele entwickelte und später für das Training mehrschichtiger neuronaler Netze nutzte. Entscheidend waren dann verbesserte Methoden der Bilderkennung, die kleine Fehler nutzten, um Muster zu erkennen (Convolutional Neural Network CNN). 2015 prägten Hinton und seine Kollegen für tiefere Modelle mit mehr Neuronen-Schichten den Begriff Deep Learning.

 

Transformer-Architektur

Wichtige Impulse für die Sprachverarbeitung (Natural Language Processing NLP) gingen 2013 von einem Google-Team aus, das ein neuronales Netz so trainierte, dass die Nähe von Wörtern innerhalb eines Raumes ihre semantische Beziehung widerspiegelt. Das Team brachte seinem Worteinbettungssystem (word2vec) bei, das fehlende Wort in einem Satz vorherzusagen. Eine 2017 veröffentlichte Weiterentwicklung nannte Google Transformer-Architektur. Das Grundprinzip besteht darin, herauszufinden, welche Wörter in einem Satz am wichtigsten sind (Selbstaufmerksamkeit) und so einen Text in eine Zusammenfassung zu „transformieren“.

2019 veröffentlichte OpenAI sein Modell GPT-2, das auf 40 Gigabyte (acht Millionen Websites) mit 1,5 Milliarden Parametern trainiert worden war und so in der Lage sein sollte, das wahrscheinlichste nächste Wort in einer Sequenz vorherzusagen. GPT steht für Generative Pre-Trained Transformer. Am 30. November 2022 brachte OpenAI seinen Chatbot ChatGPT an die Öffentlichkeit. Nach einer Eingabeaufforderung (Prompt) produziert der Chatbot längere Texte aus unterschiedlichen Wissensfeldern, ist dabei aber fehleranfällig (halluziniert). Grundlagenmodelle (Foundation Models), die ein Trainingsfundament für spezifische Anwendungen bilden und auf Internetinhalten basieren nennt man große Sprachmodelle (Large Language Models LLM).

Diese Entwicklung der Künstlichen Intelligenz fasst die folgende Abbildung zusammen. Dabei ist KI ein Oberbegriff für verschiedene Technologien, der eine Erweiterung von Aspekten des Lernens und der Intelligenz durch eine Maschine beschreibt.

Lernprozess Innovationsstrategie

Mit einer KI, die neuronale Netze mit der Monte Carlo Tree Research (MCTR-) Methode kombiniert, ist es dem von Google akquirierten Unternehmen DeepMind seit 2015 nicht nur gelungen, einen der weltbesten Spieler in dem asiatischen Brettspiel Go zu besiegen, sondern auch die Faltungen von 200 Millionen Proteinen vorherzusagen. Dies zeigt, dass eine KI, die nach dem Prinzip des verstärkenden Lernens (Reinforcement Learning) arbeitet, sowohl die Produktivität erhöht als auch spezifisches Wissen und die daraus entstehenden Fähigkeiten erweitert. Bei einer Anwendung der generativen KI (GenAI) resultieren hieraus neue Perspektiven für die Wissensarbeit in Unternehmen. Mit Hilfe von wissensspezifischer (domain-specific) GenAI ergeben sich für die europäische Wirtschaft mit ihrem hohen Anteil an hochspezialisierten Unternehmen neue Möglichkeiten zur Differenzierung im Wettbewerb.

 

Nobelpreise für KI-Forscher

Die Nobelpreise für Physik haben 2024 John Hopfield und Geoffrey Hinton erhalten, die zum maschinellen Lernen und zu künstlichen neuronalen Netzen forschen. Eine Hälfte des Chemie-Nobelpreises ist ebenfalls 2024 an die bei der Google-Tochter DeepMind beschäftigten Demis Hassabis und John Jumper für ihre KI-basierte Vorhersage von komplexen Protein-Strukturen gegangen. Dies macht deutlich, dass es im Technologie- und Innovationsmanagement bei der Schaffung von neuem Wissen gravierende Veränderungen gibt.

 

Hype und Ernüchterung bei großen Sprachmodellen

Große Sprachmodelle (Large Language Models LLM) durchlaufen gegenwärtig einen Hype Cycle. Der technologische Auslöser war im November 2022 der von Open AI entwickelte Chatbot ChatGPT. Große Sprachmodelle auf Grundlage der von Google-Forschern 2017 vorgestellten Transformer-Technologie gab es schon länger. Aber ChatGPT erreichte die breite Masse und hatte nach zwei Monaten 100 Millionen Nutzer.

Der Gipfel der überzogenen Erwartungen zeigte sich in einer gigantischen Investitionsblase beim Rennen um die KI-Vorherrschaft von großen Digitalunternehmen und Start-ups.

Das Tal der Enttäuschung äußerte sich in der nicht erfüllten Management-Illusion, dass die hohen Investitionen auch zu gewinnbringenden Anwendungen führen und einer daraus resultierenden Börsen-Illusion.3

Lernprozess Innovationsstrategie

Ein möglicher Pfad der Erleuchtung könnte von kostengünstigen kleinen Sprachmodellen mit branchen-, unternehmens- und prozess-spezifischen Anwendungen ausgehen.

Ob, wann und wie genau mit wissensspezifischer KI ein Plateau der Produktivität erreicht wird, ist gegenwärtig noch nicht ganz klar. Wir gehen aber davon aus, dass sich hieraus Chancen für die europäische Wirtschaft ergeben. Diese Chancen sollten KI-Anbieter gemeinsam mit Anwendern nutzen.

 

Vorteile von kleinen und spezifischen KI-Modellen

Große Sprachmodelle streben an, möglichst viele Bereiche abzudecken und werden vor allem mit Daten aus dem Internet trainiert. Dies ist nicht nur zeit-, kosten- und energieintensiv, sondern der Grenznutzen zusätzlicher Daten nimmt ab. Bei Spezialaufgaben kann die Leistung großer Sprachmodelle sogar mit der Zeit schlechter werden.4

Diese Nachteile haben kleine Sprachmodelle nicht. Deren Training erfolgt auf der Grundlage von branchen-, unternehmens- und prozess-spezifischen Daten. So ist z.B. das Berliner Start-up Xayn auf Anwaltskanzleien und Rechtsabteilungen spezialisiert. Für das Training gibt es mehrere Ansätze, z.B.

–  eine Retrieval Augmented Generation (RAG): Dabei erfolgt die Kopplung eines großen Sprachmodells an interne Datenbanken
–  Continuous Pre-Training in Form von domänenspezifischen Modellen und
–  das Training eigener Modelle mit vollständiger Kontrolle über die verwendeten Daten.

Start-ups aus den USA wie Databricks bieten ihren Kunden die gemeinsame Entwicklung von unternehmensspezifischen KI-Modellen an. Die Kosten für ein Training dieser maßgeschneiderten Modelle liegen deutlich unter denen für das Training z.B. von GPT-4 in Höhe von knapp 80 Millionen Dollar. Das Training erfolgt auf der Grundlage von individuellen Unternehmensdaten.5 Ein Risiko ist möglicherweise, in eine Abhängigkeit von Dienstleistern zu geraten. Die Alternative ist daher die Befähigung der eigenen Mitarbeitenden. Die Grundlage hierfür bildet eine KI-Personalstrategie für das Unternehmen.

Bei branchenspezifischen KI-Lösungen kann die Zusammenarbeit von etablierten Unternehmen mit Start-ups erfolgreich sein.6 Das Berliner Start-up Linetweet konzentriert sich z.B. auf KI-Tools für das Storemanagement im Einzelhandel. Linetweet hat bereits 2019 die Optikerkette Fielmann mit einem Tool zur digitalen Terminvereinbarung gewonnen. Dieses Tool wurde gemeinsam weiterentwickelt. Heute passt Store AI die Dienstpläne in Fielmann-Filialen auf der Grundlage unternehmensspezifischer Daten automatisch an und steigert so die Produktivität der Stores. Bislang gehört Linetweet zu 100 Prozent den beiden Gründern. Das Beispiel zeigt das Potenzial einer Verbindung des branchenspezifischen Wissens etablierter Unternehmen mit der KI-Kompetenz von Start-ups.

Gegenwärtig konzentrieren sich viele Unternehmen bei ihren KI-Anwendungen noch auf einzelne Vorgänge. Der wirklich große Durchbruch von KI wird vermutlich erst mit einer integrierten Sicht von Strategien und Geschäftsprozessen gelingen.7 Das sind die Themen unserer nächsten Blogposts.

 

Fazit

  • Die Grundlage für die generative KI mit großen Sprachmodellen bilden neuronale Netze, deren Entwicklung vor vielen Jahrzehnten begonnen hat
  • Die mit Nobelpreisen ausgezeichneten KI-Forscher haben das Technologie- und Innovationsmanagement verändert
  • Nach der durch ChatGPT ausgelösten Hype-Phase zeichnet sich bei großen Sprachmodellen eine gewisse Ernüchterung ab
  • Die wissensspezifische KI hat eine Reihe von Vorteilen, die europäische Unternehmen nutzen sollten.

 

Literatur

[1] Obmann, C., Was Chefs und Mitarbeiter jetzt zu KI wissen müssen. In: Handelsblatt, 17. Februar 2025, S. 32-33

[2] Meckel, M., Steinacker, L., Alles überall auf einmal – Wie Künstliche Intelligenz unsere Welt verändert und was wir dabei gewinnen können, Rowohlt 2024

[3] Holtermann, F., Holzki, L., de Souza Soares, A.P., Die große Sinnkrise. In: Handelsblatt, 9./ 10./ 11. August 2024, S. 46-51

[4] Bomke, L., Holzki, L., Welche KI für die Wirtschaft zählt. In: Handelsblatt, 23. September 2024, S. 20-23

[5] Bomke, L., Kerkmann, C., Scheuer, S., Die Firmen-KI wird bezahlbar. In: Handelsblatt, 3./ 4./ 5. Mai 2024, S. 30

[6] Bomke, L., Einzelhändler organisieren mit KI ihre Läden neu. In: Handelsblatt, 2. Januar 2025, S. 32

[7] Servatius, H.G., Wettbewerbsvorteile mit einer wissensspezifischen KI. In: Competivation Blog, 11. Februar 2025

Evolution des strategischen Managements

Evolution des strategischen Managements

Digital-Unternehmen haben die erste Entwicklungsstufe des markt- und finanzorientierten strategischen Managements mit einer zweiten Stufe verbunden, die durch Technologie und Innovation geprägt ist. Bereits vor der Entstehung des strategischen Managements ist eine solche Konnektivität grundlegender Orientierungen ein Erfolgsfaktor der europäischen Hidden Champions gewesen. In der Fähigkeit zur Verbindung liegt auch gegenwärtig eine Chance für die europäische Industrie, die sich ausgehend von ihren traditionellen Stärken neu in Richtung auf Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Resilienz ausrichten muss.

In diesem Blogpost erläutere ich die Grundlagen und Charakteristika der ersten beiden Entwicklungsstufen des strategischen Managements und gehe auf die Rolle der generativen Künstlichen Intelligenz (KI) als Game Changer ein.

 

Verbindung von Strategie 1.0 und 2.0

Fast jedes zweite deutsche Unternehmen befürchtet, dass eine Deindustrialisierung des Standorts Deutschlands kaum noch aufzuhalten ist und dieser weiter an Attraktivität verliert. Das ist das ernüchternde Ergebnis einer Studie des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Nach Meinung der Befragten sei die Lage so schlecht wie schon lange nicht mehr.1

Natürlich ist dies vor allem ein Weckruf an die Politik. Daneben stellt sich aber die Frage, wie Unternehmen ihr strategische Managements an ein verändertes Umfeld anpassen können.

Aufgabe des strategischen Managements als interdisziplinäres Fachgebiet ist es, die Unternehmensentwicklung zu gestalten und neue Herausforderungen zu meistern. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft grundlegend verändert. Die sich daraus ergebende Evolution des strategischen Managements gliedern wir in fünf Entwicklungsstufen.2 Zwischen diesen Stufen gibt es vielfältige Wechselwirkungen und Rückkopplungen. Gegenwärtig von besonderer Bedeutung ist die Verbindung zwischen der Strategie 1.0 und der Strategie 2.0. Eine wichtige Rolle spielen dabei Digital-Unternehmen.3

 

Vier grundlegende Orientierungen

Das strategische Management hat sich seit den 1960er Jahren aus der strategischen Planung entwickelt.4 Bereits lange vorher lag eine Stärke der wenig bekannten europäischen Weltmarktführer in ihrer Verbindung der Technologie-, Innovations-, Markt- und Finanzorientierung. Bis heute sind die vier grundlegenden Orientierungen bei diesem Unternehmenstyp auf spezifische, wissensintensive Geschäftsfelder fokussiert.5 Dies hat zum hohen Ansehen des German Engineering in der Welt beigetragen.

Der Siegeszug der ersten Entwicklungsstufe eines markt- und finanzorientierten strategischen Managements begann hingegen in diversifizierten US-amerikanischen Großunternehmen. Ein wichtiger Nutzen für die Verantwortlichen lag in der integrativen Sicht betrieblicher Funktionen und der Unterstützung von Portfolio-Entscheidungen. In den 1970er Jahren erreichte diese neuen Managementlehre deutsche Großunternehmen. Parallel dazu gewannen Funktionalstrategien an Bedeutung. Die Strategieumsetzung scheiterte aber häufig an einer von der Personalführung nicht bewältigten Komplexität.

Technologie- und Innovationsaspekte spielten in dieser ersten Stufe eine untergeordnete Rolle. Daher war die Verbreitung des strategischen Managements bei europäischen Hidden Champions und im Mittelstand eher gering. Dies hat mich Ende der 1970er Jahre bewogen, mit einer Promotion zum strategischen Technologie-Management zu beginnen. Interessanterweise befand sich in dieser Zeit die US-amerikanische Industrie in einer tiefen Krise.6 In meiner Dissertation habe ich eine ressourcenorientierte Methodik für die Entstehung von Technologiestrategien entwickelt und damit einen Beitrag zur zweiten Entwicklungsstufe eines technologie- und innovationsorientierten strategischen Managements geleistet.7 Dabei war eine wichtige Erkenntnis, dass erfolgreiche Innovationssysteme von Unternehmen aus verbundenen Handlungsfeldern bestehen. Bei deren Gestaltung kommt es auf die Fähigkeit an, die Entstehung und Umsetzung von Strategien mit einer unternehmerischen Kultur zu verbinden.8

In Europa weniger erfolgreich verlaufen ist die Erschließung des Potenzials digitaler Querschnittstechnologien. So waren es letztlich US-amerikanische Start-ups, die im Rahmen von verschiedenen Digitalisierungswellen die erste und die zweite Entwicklungsstufe des strategischen Managements zusammengeführt haben. Auf diese Weise sind die heute wertvollsten Unternehmen der Welt entstanden. Die Abbildung veranschaulicht die vier Orientierungen, die die ersten beiden Entwicklungsstufen des strategischen Managements verbinden.

Lernprozess Innovationsstrategie

Im folgenden möchte ich die Grundlagen und Charakteristika dieser beiden Entwicklungsstufen näher erläutern.

 

Markt- und finanzorientiertes strategisches Management

Die Ursprünge des Strategiebegriffs liegen im militärischen Sektor. Eine frühe Übertragung auf die Wirtschaft erfolgte an der Harvard Business School, wo man 1911 einen Kurs zum Thema Business Policy startete, um eine Klammer für die betriebswirtschaftlichen Funktionslehren zu schaffen. Schwerpunkt der Unternehmenspolitik sind die Themen Vision und Mission.9 Eine weitere Grundlage der ersten Stufe ist der Blick in mögliche Zukünfte, was der Begriff Foresight umschreibt.10 In dieser Entstehungsphase hat das strategische Management allmählich die bis dahin verbreitete Langfristplanung verdrängt.  Allerdings ist das strategische Management nie ein homogenes Konzept gewesen. Relativ früh sind verschiedene Schulen entstanden, die die Vielzahl möglicher Strategieprozesse beschreiben. Dabei ist der analytische Prozess nur eine der Varianten.11

Lernprozess Innovationsstrategie

Im Mittelpunkt der ersten Entwicklungsstufe des strategischen Managements (Strategie 1.0) steht der Fokus auf Wettbewerbsvorteile in Absatzmärkten.12 Das übergeordnete Ziel ist eine Steigerung des Unternehmenswertes für die Anteilseigner.13 Gegen diese dominierende Shareholder-Value-Sicht konnte sich die Stakeholder-Theorie zunächst nicht durchsetzen. Einen starken Einfluss auf die praktische Strategiearbeit hatte die durch Wissenschaftler und Managementberatungen geprägte Positionierungsschule, die die Strategieentwicklung als primär analytischen Prozess betrachtet. Eine populäre Methode ist die aus heutiger Sicht relativ mechanistisch erscheinende Portfolio-Analyse strategischer Geschäftselder.14

Der Hauptkritikunkt an der Strategie 1.0 ist, dass es mit dem primär analytischen Vorgehen allein nicht gelingt, Umsetzungsprobleme zu meistern. Zu einem Scheitern der Strategie-Implementierung tragen die Top-down-Vorgehensweise und die schwierige Harmonisierung von Funktionalstrategien bei. Trotz der Kritik ist diese erste Entwicklungsstufe vor allem in etablierten Großunternehmen lange Zeit weit verbreitet gewesen. Sie steht auch immer noch im Mittelpunkt der Lehre vieler Hochschulen, die zwischen den Fächern strategisches Management und Technologie- und Innovationsmanagement unterscheiden.

 

Technologie- und innovationsorientiertes strategisches Management

Die zweite, technologie- und innovationsorientierte Stufe des strategischen Managements basiert stärker auf Unternehmertum. Daher liefert für eine Strategie 2.0 die Entrepreneurship-Forschung eine wichtige Grundlage.15 In den USA haben die Finanzierung von Start-ups durch Venture Capital16 und das Corporate Venture Management viel früher an Bedeutung gewonnen als in Europa.17 Eine weitere wichtige Grundlage ist die ganzheitliche Designtheorie, die der Wirtschaftsnobelpreisträger Herbert Simon geprägt hat.18 Von den betriebswirtschaftlichen Funktionslehren behandeln vor allem das Forschungs- und Entwicklungs-(F&E) Management19 und das Produktionsmanagement20 technologische Themen.

Lernprozess Innovationsstrategie

Seit den 1980er Jahren hat sich die zweite Stufe des strategischen Managements sehr dynamisch in verschiedenen Phasen entwickelt.21 Der Fokus liegt dabei auf Technologien und Innovationsvorteilen. Das Technologie- und Innovationsmanagement integriert klassische Managementaufgaben in einem systemorientierten Ansatz.22 Hervorzuheben ist dabei die Bedeutung der Personalführung, Kultur und Organisation. Die Aufgabe von Innovationsmanagern liegt in der Gestaltung der verbundenen Handlungsfelder des Innovationssystems ihres Untenehmens.23 Diese systemorientierte Betrachtung von Handlungsfeldern bildet für die beteiligten Akteure einen gemeinsamen Rahmen. Die Evolution eines solchen offenen, komplexen Systems ergibt sich aus der Interaktion der Akteure mit ihrem Umfeld. In den letzten Jahrzehnten hat die Bedeutung von neuen Geschäftsmodellen24 und einer innovationsfördernden Kultur25 stark zugenommen. Dabei haben zunächst vor allem Start-ups mit agilen Methoden das Potenzial digitaler Technologien genutzt.26

Aus diesen Start-ups sind die US-amerikanischen Digital-Giganten hervorgegangen, deren Marktmacht teilweise auch kritisch gesehen wird. Für etablierte Unternehmen stellen der digitale Wandel und die damit verbundene Abhängigkeit von IT-Unternehmen eine große Herausforderung dar.27 In der folgenden Abbildung ist die zeitliche Entwicklung des technologie- und innovationsorientierten strategischen Managements zusammengefasst.

Lernprozess Innovationsstrategie

Eine neue Digitalisierungswelle geht von der generativen Künstlichen Intelligenz (KI) mit großen Sprachmodellen aus, die Produktivitätsvorteile und veränderte Formen der Wissensarbeit ermöglicht. Im Juni 2024 ist der KI-Ausrüster Nvidia kurzfristig das wertvollste börsenorientierte Unternehmen der Welt geworden.28 In dieser aktuellen Welle könnten die Karten zwischen Unternehmen und Wirtschaftsblöcken neu gemischt werden. Es stellt sich die Frage, wie Europa die sich hieraus ergebenden Risiken meistern kann.

 

Die generative KI als Game Changer für Europa

Als wir 2020 unser Buch Das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz als Game Changer publiziert haben, war der gegenwärtige Hype um die generative KI noch nicht absehbar. Im letzten Kapitel des Buchs setzen wir uns kritisch mit der europäischen und der deutschen Innovationspolitik auseindander.29 Eine spannende Frage ist, inwieweit die generative KI zu einer erfolgreichen Neuausrichtung der deutschen Wirtschaft beiträgt oder ihren weiteren Niedergang beschleunigt. Beides erscheint möglich. Daher befindet sich unser Land an einem Wendepunkt.

Aus der Erfolgsgeschichte der europäischen Hidden Champions können wir lernen, dass es entscheidend auf eine Verbindung der Sektoren Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft sowie der strategischen Handlungsfelder von Unternehmen ankommt. Unsere Empfehlung ist daher zu versuchen, eine Kultur der Verbundenheit zurückzugewinnen. Wichtig wäre es, dass alle Beteiligten einen entsprechenden Mindset entwickeln. Den sollten die Eliten vorleben und hoffen, dass die Bürgerinnen und Bürger ihrem Beispiel folgen. Die Aus- und Weiterbildung zum Thema Cultural Connectedness kann hierzu einen Beitrag leisten.

 

Fazit

– Der Erfolg von Digital-Unternehmen resultiert aus der Verbindung der ersten und  der zweiten Entwicklungsstufe des strategischen Managements

– Ein Problem der ersten markt- und finanzorientierten Stufe ist die Komplexitätsbewältigung bei der Strategieumsetzung

-Den Digital-Champions gelingt es besser als etablierten Unternehmen, das Potenzial der Informationstechnik zu nutzen und die verbundenen Handlungsfelder ihrer Innovationssysteme erfolgreich zu gestalten

– Mit dem Thema generative Künstliche Intelligenz (KI) hat bei der Verbindung von Strategie 1.0 und 2.0 ein neues Kapitel begonnen

 

Literatur

[1] Höpner, A., „Deindustrialisierung kann kaum noch aufgehalten werden“. In: Handelsblatt, 18.Juni 2024, S.18

[2] Servatius, H.G., Strategie 5.0 zur Bewältigung der neuen Herausforderungen. In: Competivation Blog, 28.06.2022

[3] Servatius, H.G., Personalführung im Zeitalter eines Connective Managements. In: Competivation Blog, 19.01.2021

[4] Ansoff, I.H., Declerck, R.P., Hayes, R.L. (Hrsg.), From Strategic Planning to Strategic Management, John Wiley 1976

[5] Simon, H., Hidden Champions des 21.Jahrhunderts –  Die Erfolgsstrategien unbekannter Weltmarktführer, Campus 2007

[6] Hayes, R.H., Wheelwright, S.C., Restoring Our Competitive Edge – Competing Through Manufacturing, John Wiley 1984

[7] Servatius, H.G., Methodik des strategischen Technologie-Managements – Grundlage für erfolgreiche Innovationen, Erich Schmidt 1985

[8] Schein, E.H., Organizational Culture and Leadership – A Dynamic View, Jossey Bass 1986

[9] Bleicher, K., Das Konzept Integriertes Management, Campus 1991

[10] Müller, A.W., Müller-Stewens, G., Strategie Foresight –  Trend- und Zukunftsforschung in Unternehmen –  Instrumente, Prozesse, Fallstudien, Schäffer Poeschel 2009

[11] Mintzberg, H., Ahlstrand, B., Lampel, J., Strategy Safari – Eine Reise durch die Wildnis des strategischen Managements, Ueberreuter 1999

[12] Porter, M.E., Competitive Strategy – Techniques for Analyzing Industries and Competititors, The Free Press 1980

[13] Rappaport A., Creating Shareholder Value – The New Standard for Business Performance, The Free Press 1986

[14] Kirsch, W., Roventa, P. (Hrsg.), Bausteine des Strategischen Managements – Dialoge zwischen Wissenschaft und Praxis, De Gruyter, 1983

[15] Ronstadt, R.C., Entrepreneurship – Text, Cases and Notes, Lord Publishing 1984

[16] Gladstone, D.J., Venture Capital Handbook – An Entrepreneur’s Guide to Obtaining Capital To Start a Business, Buy a Business, Or Expand An Existing Business, Reston Publishing 1983

[17] Servatius, H.G., New Venture Management – Erfolgreiche Lösung von Innovationsproblemen für Technologie-Unternehmen, Gabler 1988

[18] Simon, H.A., The Sciences of the Artificial, 2.Aufl., MIT Press 1981 (1.Aufl. 1969)

[19] Brockhoff, K., Forschung und Entwicklung – Planung und Kontrolle, Oldenbourg 1988

[20] Zäpfel, G., Strategisches Produktionsmanagement, De Gruyter Oldenbourg 2000

[21] Zahn, E. (Hrsg.), Handbuch Technologie-Management, Schäffer-Poeschel 1995

[22] Servatius, H.G., Piller, F.T. (Hrsg.), Der Innovationsmanager – Wertsteigerung durch ein ganzheitliches Innovationsmanagement, Symposion 2014

[23] Servatius, H.G., Dreifache strategische Neuausrichtung, In: Competivation Blog, 07.06.2024

[24] Osterwalder, A., Pigneur, Y., Business Model Generation – A Handbook for Visionaries, Game Changers, and Challengers, Wiley 2010

[25] Mc Afee, A., The Geek Way – The Radical Mindset That Drives Extraordinary Results, Macmillan Business 2023

[26] Ries, E., The Lean Startup – How Today’s Entrepreneurs Use Continuous Innovation to Create Radically Successful Businesses, Crown Currency 2011

[27] Rogers, D.L., The Digital Transformation Roadmap – Rebuild Your Organization for Continuous Change, Columbia Business School Publishing 2023

[28] Brüntjen, J.S., Narat, I., Maisch, M., Kursbebeben erschüttert Nvidia. In: Handelsblatt, 26.Juni 2024, S.30-31

[29] Kaufmann, T. Servatius, H.G., Das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz als Game Changer – Wege zu einem Management 4.0 und einer digitalen Architektur, Springer Vieweg 2020, S.203 ff.

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