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Fraktale Organisation von Strategie 5.0-Laboren

Fraktale Organisation von Strategie 5.0-Laboren

Bei der Umsetzung der fünften Entwicklungsstufe eines verbindenden strategischen Managements entstehen gegenwärtig neue Formen von Strategielaboren mit einer fraktalen Struktur. Ein wichtiger Treiber ist die generative Künstliche Intelligenz (KI)

 

In diesem Blogpost berichte ich über unsere Erfahrungen bei der Implementation einer Strategie 5.0

 

Ist die traditionelle Strategiearbeit noch zeitgemäß?

Angesichts des Ausmaßes und der Dringlichkeit neuer Herausforderungen überlegen viele Unternehmen, ob ihre traditionelle Strategiearbeit noch zeitgemäß ist. In unseren Gesprächen mit Klienten hören wir immer wieder die folgenden Fragen:

  • Müssten die Strategieentwicklung und -umsetzung sowohl politischer als auch verbindender werden?
  • Sollten wir die Behandlung strategischer Themen besser integrieren, um die zunehmende Komplexität zu bewältigen und
  • was bedeutet dies für die Organisation einer Stabseinheit für Unternehmensentwicklung?

Wir haben diese Fragen zum Anlass genommen, nach neuen Wegen zu suchen, wie Unternehmen ein weiterentwickeltes strategisches Management organisatorisch umsetzen können.

 

Von der Stabseinheit für Unternehmensentwicklung zum agilen Strategielabor

Die traditionelle Unterstützung der Aufsichts- und Führungsebenen bei der Strategiearbeit erfolgt durch eine Stabseinheit für Unternehmensentwicklung. Während der verschiedenen Entwicklungsstufen des strategischen Managements1 sind zu diesem Stab weitere Einheiten hinzugekommen, die sich z.B. mit den strategischen Themen Innovation, digitaler Wandel und Nachhaltigkeit beschäftigen. Dies führt zu einer zersplitterten Strategieentwicklung und erschwert die Umsetzung in operatives Handeln.

Um diese Probleme zu überwinden, gehen Pionierunternehmen dazu über, die Einheiten, die sich mit strategischen Handlungsfeldern beschäftigen, in einem agilen Strategielabor zu verbinden. Bei der Gestaltung einer solchen Einheit orientieren sie sich an den Grundprinzipien einer fraktalen Organisation. Da der Fraktalbegriff in aktuellen Publikationen z.B. der Boston Consulting Group relativ mehrdeutig verwendet wird,2 wollen wir kurz erläutern, was man in der Wissenschaft unter einem Fraktal versteht.

 

Von der fraktalen Geometrie zur fraktalen Organisation

Den Begriff Fraktal hat 1975 der Mathematiker Benoit Mandelbrot (1924-2010) geprägt. Er bezeichnet damit bestimmte natürliche oder künstliche Gebilde oder geometrische Muster, die zu sich auf unterschiedlichen Größenskalen selbstähnlich sind. Das berühmteste Fraktal ist die Mandelbrot-Menge – das sogenannte Apfelmännchen.3 Erfolgreiche Unternehmen und ihre Strategielabore – so unsere These – sind selbstähnlich.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Der frühere Leiter des Stuttgarter Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) Hans-Jürgen Warnecke (1934-2019) hat Anfang der 1990er Jahre eine Analogie zwischen der fraktalen Geometrie und einer Gestaltung der Produktion beschrieben und den Begriff fraktale Fabrik geprägt.4

Ausgehend von meinem Habilitationsvortrag 1991 an der Universität Stuttgart, in dem ich mich mit der Relevanz von Chaostheorie und fraktaler Geometrie für den Wandel komplexer sozialer Systeme beschäftigt habe, ist die Idee zu einer fraktalen Organisation mit selbstähnlichen Strukturen entstanden.5 An diese Modellvorstellung knüpft unser Konzept für fraktale Strategielabore an.

Bevor ich hierauf näher eingehe, möchte ich zunächst Überlegungen von früheren Kollegen der Boston Consulting Group zu fraktalen Wettbewerbsvorteilen kritisch hinterfragen.

 

Fraktale Wettbewerbsvorteile mit Anti-Skalierungsstrategien?

Die BCG-Autoren vertreten die These, eine neue Form von fraktalen Wettbewerbsvorteilen ließe sich mit Anti-Skalierungsstrategien erzielen, bei der die Anpassung an lokale Kontexte eine wichtige Rolle spiele.6

Die Bedeutung lokaler Kontexte ist in der Vergangenheit sicherlich unterschätzt worden.7 Gegen die Anti-Skalierungsthese spricht aber, dass große Digitalkonzerne und erfolgreiche Start-ups auf Organisationsformen setzen, die die Vorteile von Zentralität und Dezentralität verbinden. Die Grundstruktur einer solchen Organisation besteht aus drei Bausteinen:8

  1. Einer zentralen, „zusammensetzbaren“ (composable) IT-Plattform, die mit Hilfe von Technologien der Künstlichen Intelligenz große Datenmengen verarbeitet
  2. der Skalierung von agilen Teams, die für die nötige Kundennähe und bedarfsorientierte Innovationen sorgen sowie
  3. einem disruptiven Stakeholder-Ökosystem, in dem Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft zusammenarbeiten.

Das Herzstück der zentralen IT-Architektur ist eine Application Composition Plattform (ACP), die sich an dem vom IT-Analysten Gartner entwickelten Konzept eines Composable Enterprise orientiert.9 Diese Plattform ist die Entwicklungsumgebung für zusammensetzbare Fähigkeiten oder Packaged Business Capabilites (PBC), die die Grundlage für Prozesse und Anwendungen bilden. Das Prinzip der Zerlegbarkeit (Composability) ermöglicht es den Akteuren des Unternehmens und seinen Partnern, PBCs hinzuzufügen, zu ändern oder zu entfernen. Man kann also sagen, dass Composability den Grundgedanken einer fraktalen (selbstähnlichen) Organisation in die heutige IT-Welt überträgt.

Bei dieser Organisationsform mit einer Infrastruktur-Plattform, agilen Teams und einem Stakeholder-Ökosystem werden die Aufsichts- und Führungsebenen von einem Strategielabor unterstützt.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Diese neuartigen Strategielabore haben eine fraktale Struktur. Was dies konkret bedeutet, erfahren Sie in den folgenden Abschnitten.

 

Verbindung von strategischen Handlungsfeldern

In einem fraktalen Strategielabor sind verschiedene strategische Handlungsfelder verbunden. In der ersten Entwicklungsstufe eines markt- und veränderungsorientierten strategischen Managements haben in vielen Unternehmen neben den Einheiten für Unternehmensentwicklung und Kapitalmarktkommunikation Aktivitäten stattgefunden, die einen strategischen Wandel anstreben. Dabei ist die Arbeit von Strategen und Organisationentwicklern lange Zeit eher nebeneinander als miteinander erfolgt, obwohl natürlich eine Verbindung ihrer unterschiedlichen Ansätze wünschenswert gewesen wäre.

In der frühen Phase der zweiten Entwicklungsstufe wurden Strategic Foresight-Einheiten gebildet, die häufig relativ eigenständig agiert haben. Mit deutlicher Verzögerung gegenüber den USA hat sich auch in Deutschland allmählich ein Corporate Venture Management entwickelt mit der Zielsetzung, dass etablierte Unternehmen mit Start-ups kooperieren oder sich an ihnen beteiligen. Seit den frühen 1980er Jahren sind dann strategische Einheiten für Technologie- und Innovationsmanagement entstanden, die häufig im Forschungs- und Entwicklungsbereich angesiedelt wurden und an einen Chief Technology Manager (CTO) berichten. Zur Bewältigung des digitalen Wandels haben Unternehmen vor einigen Jahren begonnen, mit einem gewissen Abstand zur etablierten Organisation Digitaleinheiten zu gründen, die sich um neue Geschäftsmodelle kümmern. Parallel dazu erfolgt im gesamten Unternehmen eine Digitalisierung der Geschäftsprozesse.

In der dritten Entwicklungsstufe hat die strategische Bedeutung des Themas Nachhaltigkeit zugenommen. Unter dem Druck der neuen EU-Taxonomie streben gegenwärtig Nachhaltigkeitsmanager beim Sustainability Reporting eine Zusammenarbeit mit den Finanz- und Controlling-Abteilungen an.

Die vierte Entwicklungsstufe hat zu einer Neuinterpretation des Risiko- und Krisenmanagements geführt. Die strategische Frage ist, wie Unternehmen resilienter werden können. Eine Beantwortung dieser Frage erfordert neue Kompetenzen, die sich in einen gemeinsamen strategischen Rahmen einfügen sollten.

Eine wichtige Erkenntnis in der entstehenden fünften Entwicklungsstufe ist zunächst einmal, wie fragmentiert das strategische Management geworden ist. Eine Gegenmaßnahme ist daher die Wiederherstellung von Konnektivität.10 Die Erarbeitung eines gemeinsamen Narrativs des Unternehmens betrifft nicht nur die klassischen Kommunikationsfunktionen, sondern in zunehmendem Maße auch die Gestaltung von disruptiven Stakeholder-Ökosystemen.11 Dabei spielt neben der kontextuellen und beziehungsorientierten Intelligenz von Führungskräften ihre Fähigkeit zur Social-Media-Kommunikation eine wichtige Rolle.12 Außerdem übernehmen Strategie 5.0-Labore Aufgaben bei der Personalentwicklung und beim Employer Branding und steigern so die Attraktivität des Unternehmens für jüngere Generationen. In der Abbildung sind diese strategischen Handlungsfelder zusammengefasst.

 

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Die spannende Frage ist, wie in einem solchen innovativ gestalteten Strategielabor die Verbindung der Handlungsfelder gelingt. Diese Frage führt uns zurück zu fraktalen Prinzipien der Selbstähnlichkeit. Im Folgenden beschreibe ich unsere Erfahrungen bei einer Erneuerung der traditionellen Einheiten für Unternehmensentwicklung.

 

Prinzipien der Selbstähnlichkeit

Interessanterweise streben gegenwärtig einige europäische Hidden Champions die Reintegration strategischer Handlungsfelder an. Ein Grund hierfür ist die zunehmende Resilienzorientierung, die darauf abzielt, gemeinsam Krisen zu meistern und Chancen zu nutzen. Hierbei knüpfen die Unternehmen an eine lange Tradition erfolgreicher regionaler Cluster an.13

Der Begriff Strategielabor soll zum Ausdruck bringen, dass eine solche Einheit nicht nur strategische Analysen durchführt, sondern auch in enger Zusammenarbeit mit den operativen Teams Lösungsansätze gestaltet, diese testet und die Skalierung vorantreibt.

In diesen Strategielaboren mit fraktaler Organisation gelten acht Governance-Prinzipien der Selbstähnlichkeit, die in der Abbildung zusammengefasst sind.

 

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Das erste Prinzip ist das gemeinsame Ziel, unterschiedliche Herausforderungen zu bewältigen, die alle eine strategische Dimension haben. Auf diese Weise wird einer Fragmentierung des strategischen Denkens und Handelns entgegenwirkt.

Prinzip zwei sind die konnektiven Fähigkeiten von Strategen und operativen Teams mit verschiedenen Spezialisierungen. Diese Fähigkeiten verbinden die Akteure bei der Strategieentwicklung und -umsetzung in den Handlungsfeldern.

Ein weiteres verbindendes Element ist ein gemeinsames Wertesystem bei der Anwendung agiler Arbeitsprinzipien. So werden auch in größeren Organisationen schnelle Richtungsänderungen gefördert. Hierbei hilft ein agiles Performance Management mit der Objectives and Key Results (OKR-) Methode.

Das vierte Prinzip ist die Einbettung des Strategielabors in einen passenden organisatorisch-kulturellen Rahmen des Unternehmens. Diese Einbettung verringert die Distanz zwischen strategischen und operativen Aktivitäten.

Ein solches Strategielabor ist ein Lernraum für die Zusammenarbeit von angehenden Führungskräften und erfahrenen Praktikern. Die dort gesammelten Erfahrungen tragen dazu bei, im Hinblick auf wichtige Zukunftsthemen, wie der Anwendung von Künstlicher Intelligenz, Brücken zwischen den Generationen zu bauen.

Diese Vielfalt der Akteure erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass innovative Strategien entstehen, die auch umsetzbar sind. So kann es gelingen, weit verbreitete Innovationsbarrieren zu überwinden.

Ein siebtes Prinzip ist die Förderung der Kooperation mit Partner-Organisationen, die nach ähnlichen Grundmustern arbeiten. In einer Zeit, in der der Wettbewerb zunehmend zwischen disruptiven Stakeholder-Ökosystemen stattfindet, wird ein reibungsloses Zusammenspiel der Akteure immer wichtiger.

Unsere praktische Erfahrung aus gemeinsamen Projekten mit Klienten zeigt, dass diese zukunftsorientierten Strategielabore eine vielversprechende Alternative zu den traditionellen Einheiten für Unternehmensentwicklung sind. Dabei praktizieren wir ein Action Learning für die Verbindung von kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz. So leisten die fraktalen Strategielabore einen wichtigen Beitrag zur Führungskräfteentwicklung.

Prinzip acht ist die Verbindung von menschlicher Intelligenz mit generativer KI zu einer hybride Intelligenz. Wir wollen zunächst skizzieren, welche Treiberrolle die generative KI inzwischen übernommen hat.

 

Generative KI als Game Changer

Als Tim Kaufmann von SAP und ich 2020 unser Buch „Das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz als Game Changer“ publiziert haben,14 ahnten wir, dass die Entwicklung noch dramatischer verlaufen könnte als damals prognostiziert wurde. Dieser Fall ist inzwischen eintreten. Nach Analysen des Marktforschungsunternehmens IDC werden die weltweiten Investitionen in Künstliche Intelligenz von 2023 bis 2026 von 151,4 auf 308,3 Milliarden US-Dollar steigen. Ein wichtiger Treiber dieser Entwicklung ist eine neue KI-Generation großer Sprachmodelle wie GPT mit einer Vielzahl möglicher Anwendungsfelder.15 Hierbei steht die Abkürzung GPT für Generative Pre-Trained Transformer.

Große Sprachmodelle (Large Language Models LLM) nutzen künstliche neuronale Netzwerke, die mit Hilfe eines selbst-überwachten Lernens das nächste Wort in einem Satz vorhersagen. Sie gehören zum Typ der generativen Künstlichen Intelligenz, die Texte oder Bilder als Antwort auf gesprochene Fragen erzeugt.

Im Zentrum des Hypes um generative KI steht das von Peter Altmann gegründete Start-up-Unternehmen OpenAI, an dem Microsoft beteiligt ist. OpenAI hat nicht nur den Super-Chatbot ChatGPT entwickelt, sondern mit Dall-E auch ein Programm, das zu Texteingaben komplexe Bilder generieren kann.

Zwischen Digitalriesen wie Microsoft, Alphabet/Google und dem chinesischen Unternehmen Baidu ist ein Kampf um die Vorherrschaft bei der generativen KI entbrannt. So hofft Microsoft, mit einer Integration von generativer KI in seine Suchmaschine Bing im Wettbewerb mit dem Marktführer Google aufholen zu können.

OpenAI hat Mitte März 2023 seine neue Version GPT-4 vorgestellt, die eine deutliche Verbesserung gegenüber der Version 3.5 darstellt. Hierzu zählen z.B. Innovationen wie eine „Systembotschaft“, mit der Anwendende eine genaue Nutzung oder einen Nutzungsstil anfordern können. Der CEO von Microsoft Satya Nadella, der GPT-4 als wichtige Ergänzung seiner Cloud-Infrastruktur Azure betrachtet, spricht von einer „Neuerfindung der Produktivität durch KI“.16

Während große Digitalkonzerne und Start-ups um die KI-Führerschaft ringen, diskutiert die Europäische Union (EU) den sogenannten AI Act, der im Sommer 2023 in Kraft treten soll. Dieses Regelwerk versucht, alle erdenklichen Risiken im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz zu vermeiden. Neben der Nachhaltigkeitsberichterstattung entsteht so in Europa ein weiteres Bürokratiemonster.

 

Implikationen für die Strategiearbeit von Führungskräften

Dies alles hat gravierende Auswirkungen für wissensintensive Prozesse in Unternehmen und deren Strategieabteilungen. Dabei liegt die strategische Bedeutung von generativer KI darin, dass die Sprachmodelle die Arbeit von Führungskräften in einer Reihe verbundener Anwendungsfelder unterstützen kann.17 In der Abbildung sind einige Beispiele dargestellt. Für die Strategiearbeit bedeutet dies, dass es immer mehr darauf ankommt, die neuen mächtigen Werkzeuge geschickt zu nutzen. Konkret heißt das, die richtigen Fragen zu stellen, mögliche Effizienz- und Geschwindigkeitsvorteile bei Recherchen zu nutzen, die Qualität der Ergebnisse zu kontrollieren und Resultate aus verschiedenen Feldern kreativ zusammenzufügen.

 

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Vor allem für kleinere Unternehmen besteht dabei die Gefahr, in eine starke Abhängigkeit von großen Digitalkonzernen zu geraten, an die man Teile der Strategiearbeit auslagert. Ein besserer Weg wäre, die eigene Kompetenz im Umgang mit generativer KI zu steigern und die Programme mit unternehmensspezifischen Daten zu trainieren. Ein Strategielabor mit fraktaler Organisation unterstützt die Integration relevanter Aufgabenfelder.

 

Reintegration und Erweiterung des strategischen Managements

Wir können zusammenfassen, dass verschiedene Muster die zeitliche Entwicklung des strategischen Managements geprägt haben. In der Entstehungsphase ist das große Nutzenversprechen die integrierte Sicht der betrieblichen Funktionsbereiche gewesen. Da diese Sicht überwiegend marktorientiert war, erfolgte eine Erweiterung um neue strategische Handlungsfelder beginnend mit dem Thema Technologie und Innovation. Inzwischen werden die anfänglichen Vorteile der Erweiterung durch die Nachteile einer Fragmentierung des strategischen Managements überkompensiert. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Reintegration der strategischen Handlungsfelder. Diese dialektische Abfolge von Mustern ist in der Abbildung dargestellt

 

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Gleichzeitig vollzieht sich gegenwärtig eine erneute Erweiterung z.B. um das Thema hybride Intelligenz, die alle strategischen Handlungsfelder betrifft. Im Mittelpunkt steht dabei die Verbindung von menschlicher Intelligenz mit Werkzeugen der generativen KI wie GPT. In Analogie zum Sport könnte man sagen, dass die Disziplin Stabhochsprung eine neue Art von Stäben bekommt. Die Springer müssen aber lernen, diese innovativen Werkzeuge in einer erlaubten Weise zu nutzen. Dies hat weitreichende Implikationen für die Ausbildung und die Personalentwicklung in Organisationen. Traditionelle Inhalte in Fachdisziplinen wie der Betriebswirtschaftslehre bedürfen einer Ergänzung und Verbindung.

Im Treffen des von Frank Piller geleiteten Expertenkreises für Innovationsmanager (TIMEX) an der RWTH Aachen am 23. März 2023 zum Thema KI lag der Schwerpunkt bei einer Erweiterung der Kreativität.18 Dies ist eine wichtige Dimension. So kooperieren z.B. das dänische Pharmaunternehmen Novo Nordisk und Microsoft, um mit Hilfe von generativer KI die Innovation von Medikamenten zu beschleunigen. Eine andere Dimension ist die Veränderung von Tätigkeiten, die auf dem im Internet vorhandenen Wissen aufbauen. Führungskräfte müssen Menschen „mitnehmen“, die Sorge um ihren Arbeitsplatz haben. Möglicherweise liegt hier gegenwärtig das größte Game Changer-Potenzial.

 

Bessere Verbindung von strategischem und operativem Management

Strategie 5.0-Labore leisten einen wichtigen Beitrag zur besseren Verbindung eines weiterentwickelten strategischen Managements mit einem produktiveren operativen Management. Angesichts der zunehmenden Bedeutung der Erneuerung von Unternehmen wächst die Größe der Schnittmenge zwischen diesen beiden Managementebenen. Das Beispiel der generativen KI zeigt, wie wichtig es ist, nicht nur die Strategiearbeit um ein neues Handlungsfeld zu erweitern, sondern auch das Tagesgeschäft mit den innovativen Werkzeugen zu optimieren.

 

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In unseren Beratungsprojekten machen wir die Erfahrung, dass der Nutzen von Strategie 5.0-Laboren vor allem in den folgenden drei Punkten liegt:

  1. Einer Überwindung der Mängel früherer Entwicklungsstufen des strategischen Managements z.B. bei der Umsetzung von Strategien19
  2. der Realisierung einer seit langem angestrebten Ambidextrie („Beidhändigkeit“) von Innovation und Produktivität in einer lernenden Organisation20 sowie
  3. einer Ausschöpfung des vollen Potenzials eines verbindenden strategischen Managements auf der Grundlage von Governance-Prinzipien der Selbstähnlichkeit.21

Daher liegt gegenwärtig der Schwerpunkt unserer anwendungsorientierten Forschung gemeinsam mit Klienten in einer Vertiefung der Erkenntnisse zu diesem neuen Managementkonzept.

Fazit

  • In der fünften Entwicklungsstufe eines verbindenden strategischen Managements entstehen aus Einheiten für Unternehmensentwicklung Strategielabore mit einer fraktalen Struktur
  • Fraktale sind durch Selbstähnlichkeit auf unterschiedlichen Größenskalen gekennzeichnete Gebilde oder Muster
  • Diese Strategie 5.0-Labore unterstützen die Aufsicht und Führung im Rahmen von neuen Organisationsformen mit einer zentralen Infrastruktur-Plattform, agilen Teams und einem disruptiven Stakeholder-Ökosystem
  • Fraktale Strategielabore verbinden Handlungsfelder, die in den verschiedenen Entwicklungsstufen des strategischen Managements entstanden sind. Damit verfolgen Unternehmen das Ziel, einer Fragmentierung entgegenzuwirken und eine kreative Integration wiederherzustellen
  • Die Gestaltung von fraktalen Strategielaboren orientiert sich an acht Governance-Prinzipien der Selbstähnlichkeit
  • Diese Entwicklung wird durch den aktuellen Technologietrend einer generativen KI beschleunigt, der erhebliche Kreativitäts- und Produktivitätsgewinne bei der Zusammenarbeit von Strategieexperten und operativen Teams ermöglicht
  • Das Neue an Strategie 5.0-Laboren ist die gleichzeitige Reintegration und Erweiterung strategischer Handlungsfelder
  • Strategie 5.0-Labore fördern eine bessere Verbindung zwischen dem strategischen und dem operativen Management

 

 

Literatur

[1] Servatius, H.G.: Strategie 5.0 zur Bewältigung der neuen Herausforderungen. In: Competivation Blog, 28.06.2022

[2] Bhattacharya, A., Bürkner, H.P., Bailey, A., Verma, S.: The Organization of the Future is Fractal, 31. Mai 2022

[3] Mandelbrot, B.B.: Die fraktale Geometrie der Natur, Bagel 1991

[4] Warnecke, H.J.: Die Fraktale Fabrik – Revolution der Unternehmenskultur, Berlin 1992

[5] Servatius, H.G.: Reengineering-Programme umsetzen – Von erstarrten Strukturen zu fließenden Prozessen, Stuttgart 1994, S. 121 ff.

[6] Bhattacharya, A., Bürkner, H.P., Gallego, A.: Building Fractal Advantage in a Fragmenting World, 15. November 2021

[7] Khanna, T.: Contextual Intelligence. In: Harvard Business Review, September 2014

[8] Servatius, H.G.: Die Ressourcen-Plattform mit agilen Teams als neue Organisationsform. In: Competivation Blog, 12.01.2021

[9] Scheer, A. W.: Composable Enterprise – Paradigmenwechsel für Digitalisierung und Unternehmenssoftware. In: IM+io – Best & Next Practices aus Digitalisierung, Management und Wissenschaft, 38. Jahrgang, Heft 1, 2023, S. 96-109

[10] Servatius, H.G.: Der Megatrend Konnektivität und seine Treiber. In: Competivation Blog, 13.10.2021

[11] Servatius, H.G.: Gestaltung von innovativen Stakeholder-Ökosystemen. In: Competivation Blog, 10.01.2023

[12] Servatius, H.G.: Strategisch führen mit kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz. In: Competivation Blog, 14.03.2023

[13] Hauser, E. (Hrsg.): Clustermanagement – Wie Cluster die Innovation und Wettbewerbsfähigkeit unterstützen, Wiesbaden 2017

[14] Kaufmann, T., Servatius, H.G.: Das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz als Game Changer – Wege zu einem Management 4.0 und einer digitalen Architektur, Wiesbaden 2020

[15] Kerkmann, C.: SAP lotet Einsatz von ChatGPT aus. In: Handelsblatt, 15. März 2023, S. 24-25

[16] Holtermann, F., Jahn, T., Scheuer, S.: Neue Runde im Ringen um die KI-Vorherrschaft. In: Handelsblatt, 16. März 2023, S. 20-21

[17] Candelon, F., Gupta, A., Krayer, L., Zhukov, L.: The CEO’s Guide to the Generative AI Revolution, 7. März 2023

[18] Bouchery, S.G., Blazevic, Piller, F.T.: Augmenting Human Innovation with Artificial Intelligence – Exploring Transformer-based Large Language Models. In: Journal of Product Innovation Management, Volume 40, Issue 2, S. 139-153 (10. Januar 2023)

[19] Servatius, H.G.: Let’s Connect! Personalentwicklung für Stakeholder-Ökosysteme. In: IM+io – Next Practices aus Digitalisierung, Management und Wissenschaft, 38. Jahrgang, Heft 1, 2023, S. 40-43

[20] Servatius, H.G.: Ambidextrous Leadership zur Bewältigung des digitalen Wandels. In: Competivation Blog, 13.06.2017

[21] Servatius, H.G.: Corporate Governance für den strategischen Wandel. In: Competivation Blog, 16.11.2022

Strategisch führen mit kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz

Strategisch führen mit kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz

Die Bewältigung der gegenwärtigen Herausforderungen erfordert von Führungskräften eine Verbindung von kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz. Die hierzu benötigten konnektiven Fähigkeiten sind bis zu einem gewissen Grad erlernbar.

 

In diesem Blogpost erläutern wir weitere wichtige Bausteine der fünften Entwicklungsstufe des strategischen Managements (Strategie 5.0)

 

Wir schaffen das – aber wie?

Das im Zuge der Flüchtlingskrise am 31. August 2012 von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel Geäußerte: „Wir schaffen das“ ist noch in guter Erinnerung. Leider hat sich in der Folgezeit bei einer Vielzahl großer Herausforderungen gezeigt, dass es keine Antworten auf die Anschlussfrage: „Aber wie?“ gab oder diese nicht erfolgreich waren. Meine These ist, dass man von einem Grundmuster des Misslingens sprechen kann.

Eine solche Situation zeichnet sich gegenwärtig bei den vom Wirtschafts- und vom Bauministerium geplanten ehrgeizigen Vorgaben zur Beschleunigung der Wärmewende ab. Danach soll ab dem Jahr 2024 der Einbau von Gas- und Ölheizungen nicht mehr gestattet sein. Der entsprechende Referentenentwurf hat heftige Proteste unter anderem vom Koalitionspartner FDP, der Opposition, der Wohnungswirtschaft und dem Handwerk ausgelöst. Die Kritiker halten die Vorgaben, die eher an eine Planwirtschaft erinnern als an eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft, für nicht umsetzbar.

Kennzeichnend für die ernüchternde Realität ist das Talkshow-Muster einer polarisierenden Kommunikation. Ein Beispiel liefert die Sendung mit Markus Lanz am 31. Januar 2023 im ZDF. Der amtierende Wirtschaftsminister, eine Professorin für Bauphysik und ein Betreiber von Windanlagen unterhalten sich über Probleme bei der Energiewende. Es gibt gute Analysen und es scheinen auch mögliche Lösungsansätze, wie man z.B. die überbordende Bürokratie in den Griff bekommen könnte, auf dem Tisch zu liegen. In Erinnerung bleiben die Bonmots „global schwätzen – lokal verhindern“ und „Windmüller gegen Artenschützer“. Aber dann verebbt die Diskussion – wie eigentlich immer – in kleinteiligen Positionskämpfen auf der Suche nach medialer Aufmerksamkeit.

Was offensichtlich fehlt, ist ein funktionierender Ansatz zur praktischen Lösung der bekannten Probleme unter aktiver Beteiligung der an einer Lösung interessierten Stakeholder. Hier setzt unser Ansatz der fünften Entwicklungsstufe eines verbindenden strategischen Managements an.1 Wir wollen kurz skizzieren, was an einer solchen Strategie 5.0 neu ist.

 

Was ist das Neue an einer Strategie 5.0?

In meinen letzten Blogposts zum Thema Strategie 5.0 habe ich erläutert, wie sich die ersten vier Stufen verbinden und weiterentwickeln und wie dabei eine fünfte Stufe entstanden ist, die sich selbst in einem dynamischen Veränderungsprozess befindet. Ein Beispiel liefert die Stufe drei eines nachhaltigkeitsorientierten strategischen Managements. Angesichts der Irrwege beim ESG-Investing und bei der EU-Taxonomie zeichnet sich hier das Konzept der nachhaltigen Wertsteigerung mit einem neuen Reporting für den strategischen Wandel ab.

Ein weiteres Beispiel ist die generative Künstliche Intelligenz (KI) z.B. mit ChatGPT, die gegenwärtig die zweite Entwicklungsstufe eines technologie- und innovationsorientierten strategischen Managements verändert. Wir sprechen daher von einer Koevolution der früher entstandenen Entwicklungsstufen. Wie bei diesen unterscheiden wir zwischen Grundlagen und Charakteristika. Wichtige Grundlagen der fünften Stufe sind:

  • die Erkenntnis, dass es sich bei Barrieren zwischen Stakeholdern wie z.B. bei der Energiewende um ein „bösartiges“ (wicked) Problem handelt
  • der Megatrend einer technischen Konnektivität z.B. bei digitalen Technologien wie dem Artificial Internet of Things (AIoT)2
  • die zunehmende Bedeutung von Konnektivität im Management mit Lösungsansätzen wie einer verbindenden Führung3 und
  • die in der Praxis noch wenig bekannte Theorie komplexer responsiver Beziehungsprozesse.

Wicked Problems und Complex Responsive Processes of Relating wollen wir hier kurz erläutern.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Der Begriff Wicked Problem wurde 1973 von den Professoren für Design und Stadtplanung Horst Rittel und Melvin Webber an der Berkeley-Universität geprägt. Diese „bösartigen“ Probleme haben fünf Charakteristika, die eine Lösung mit traditionellen Ansätzen des strategischen Managements erschweren:4

  1. Das wahrgenommene Problem ist ungewöhnlich und ohne vergleichbare Lösungen
  2. es gibt mehrere betroffene Stakeholder mit Werten und Prioritäten, die zueinander in Konflikt stehen
  3. es gibt viele Problemursachen und diese sind untrennbar miteinander verbunden
  4. es ist unmöglich, sicher zu sein, wann man eine korrekte oder beste Lösung hat und
  5. das Verständnis, was das Problem ist, verändert sich im Kontext vorgeschlagener Lösungen.

Für die Bewältigung der Komplexität dieser Probleme gibt es bislang keine befriedigenden Konzepte.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Interessanterweise haben Praktiker, Berater und Wissenschaftler in den ersten vier Entwicklungsstufen des strategischen Managements die Schwierigkeiten dieser      „bösartigen“ Probleme unterschätzt. Eine psychologische Erklärung hierfür mag darin liegen, dass alle diese Akteure dazu neigen, ihre Ohnmacht gegenüber der Komplexität der Herausforderungen zu verdrängen und gerne auf die Machbarkeitsillusion vertrauen, die das traditionelle strategische Management-Paradigma vermittelt.

In dieser Situation kommt ein alternativer Ansatz ins Spiel: Die von Ralph Stacey (1948-2021), der Professor an der Universität von Hertfordshire nördlich von London war, geprägte Theorie komplexer responsiver Beziehungsprozesse.5

Staceys wissenschaftliche Leistung besteht darin, die überwiegend naturwissenschaftlich geprägte Theorie komplexer adaptiver Systeme angepasst und auf das Management übertragen zu haben. Im Mittelpunkt der Arbeit des von ihm gegründeten Complexity and Management Centres (CMC) stehen lokale, nichtlineare Interaktionen zwischen Menschen. Aus dem ungewissen Ausgang der Gesamtheit dieser Interaktionen können sich unterschiedliche Muster ergeben, die nicht prognostizierbar sind. Daher ist es schwer, mit Hilfe von Methoden allgemeine Handlungsempfehlungen zu geben. Wichtig ist hingegen, aus einem tiefen Verständnis der lokalen Interaktionen die Emergenz möglicher Muster abzuleiten.

Stacey ist skeptisch bezüglich des Einsatzes von Methoden bei der Gestaltung von Systemen. Er empfiehlt, Einfluss auf die Rahmenbedingungen oder den Kontext zu nehmen, wobei die Vorstellung von einem System immer eine Abstraktion sei. Welche Aktivitäten erfolgreich sind, hängt entscheidend von dem sich verändernden Kontext ab. Damit liefert die Theorie komplexer responsiver Prozesse eine wichtige Grundlage für das Thema kontextuelle und beziehungsorientierte Intelligenz.

Eine Weiterentwicklung von Staceys Ansatz führt uns zu den Charakteristika einer Strategie 5.0. Diese sind:

  • die Koevolution der früher entstandenen Entwicklungsstufen
  • die Gestaltung von disruptiven Stakeholder- und Innovationsökosystemen6
  • eine Corporate Governance für den strategischen Wandel7
  • eine strategische Führung mit kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz
  • verbindende Fähigkeiten und
  • ein authentisches Führungsverhalten bei der Social-Media-Kommunikation

Das Thema kontextuelle Intelligenz knüpft an eine berühmte Studie der Harvard Business School an.

 

Zeitgeist Leadership Reloaded

Unter dem Titel „Zeitgeist Leadership“ haben im Jahr 2005 die Harvard-Professoren Mayo und Nohria die Ergebnisse einer Studie zusammengefasst, in der 1000 außergewöhnliche US-Wirtschaftsführer analysiert wurden.8 Diese Führungskräfte zeichnet die Fähigkeit aus, Chancen zu erkennen und zu nutzen, die sich aus dem Zeitgeist einer bestimmten Epoche ergeben. Erfolgreiche strategische Führung hängt demnach zu einem Großteil vom Umfeld oder Kontext ab. Dieser Kontext wird durch sechs Einflussfaktoren bestimmt. Personen, die Veränderungen bei diesen Faktoren rechtzeitig wahrnehmen, verfügen über kontextuelle Intelligenz. Die Einflussfaktoren sind:

  1. Globale Ereignisse
  2. staatliche Eingriffe
  3. die Arbeitsverhältnisse
  4. die Demografie
  5. gesellschaftliche Normen und
  6. technologische Entwicklungen.

Diese spezifische Form der Intelligenz ist heute wichtiger denn je, Nitin Nohria hat vor kurzem eine aktualisierte Analyse vorgelegt und einige Entwicklungen beschrieben9 – eine Art Zeitgeist Leadership Reloaded. Wir haben die Faktoren am Beispiel der Energie- und Mobilitätswende in Deutschland betrachtet. In der Abbildung sind diese Aspekte beschrieben.

 

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Kennzeichnend für die Krisenjahre 2022 und 2023 ist das Wort „Zeitenwende“, das Bundeskanzler Olaf Scholz kurz nach Anbruch des Kriegs in der Ukraine in einer Sondersitzung des Bundestags am 27. Februar 2022 geprägt hat. Auch hier kommt es wieder darauf an, wie schnell es gelingt, die Zeitenwende zu meistern, damit sie nicht zu einer Wende in Zeitlupe wird.

Angesichts dieser Situation stellt sich die Frage, ob und wie man die kontextuelle Intelligenz von vorhandenen und angehenden Führungskräften entwickeln kann. Dabei ist das Lernziel, das Zusammenwirken relevanter Einflussfaktoren besser zu verstehen.

 

Multiple Intelligenzen als Ausgangspunkt

Den Ausgangspunkt für eine kontextuelle und eine beziehungsorientierte Intelligenz bildet die 1983 publizierte Theorie der multiplen Intelligenzen des Entwicklungspsychologen und Harvard-Professors Howard Gardner.10

Gardner unterscheidet zwischen acht Formen der Intelligenz und erweitert damit die traditionelle Vorstellung von einer sprachlich-linguistischen und logisch-mathematischen Intelligenz.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Die beiden traditionellen Vorstellungen von Intelligenz bilden eine wichtige Grundlage für die strategische Analyse und Intuition. Im strategischen Management dominierte lange Zeit die relativ einseitige Sichtweise, dass die Fähigkeit zur strategischen Analyse der primäre Erfolgsfaktor für erfolgreiche Strategiearbeit sei. Die Bedeutung der strategischen Intuition wurde dabei unterschätzt.11 Neuere Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass es auf eine Kombination von strategischer Analyse und strategischer Intuition ankommt.12 Diese Kombination spielt eine entscheidende Rolle bei der strategischen Vorausschau (Foresight), die gegenwärtig angesichts der zahlreichen Krisen eine Neuinterpretation in Richtung Resilienz erlebt (Strategie 4.0).

In den 1990er Jahren entstand aus der Verknüpfung von interpersonaler und intrapersonaler Intelligenz die Theorie einer emotionalen Intelligenz, die durch den Psychologen und Wissenschaftsjournalisten Daniel Goleman bekannt geworden ist.13 Seit dieser Zeit hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass erfolgreiche Führungskräfte auch über emotionale Intelligenz verfügen sollten.14

Wenn man heute von einer unternehmerischen Intelligenz spricht, so verstehen wir darunter das Zusammenwirken von

  • resilienzorientierter strategischer Vorrauschau und
  • emotionaler Intelligenz.

Leider kommt die bewusste Förderung dieses Zusammenwirkens in vielen Programmen zur Führungskräfteentwicklung zu kurz.

Die Abbildung verdeutlicht, dass wir das Konzept der kontextuellen Intelligenz von Führungskräften als Weiterentwicklung ihrer Fähigkeit zu Strategic Foresight betrachten. Das Konzept einer beziehungsorientierten Intelligenz basiert auf der Theorie der emotionalen Intelligenz. Noch wenig erforscht sind die konnektiven Fähigkeiten zur Verbindung von kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz.15

 

Kontextuelle Intelligenz entwickeln

Ein Beispiel für die Bedeutung von kontextueller Intelligenz liefert der Versuch der Europäischen Union (EU), eine Antwort auf den US-amerikanischen Inflation Reduction Act (IRA) der Biden-Regierung zu finden. Während man in den USA auf einen pragmatischen Ansatz zur Förderung von Umwelttechnologien setzt, halten die Beamten in Brüssel am Bürokratie-Monster ihrer Nachhaltigkeitstaxonomie fest. Leidtragende sind vor allem mittelständische Unternehmen, die nicht die finanzielle Kraft haben, in den USA zu produzieren und sich mit der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRB) auseinandersetzen müssen, anstatt GreenTech-Innovationen voranzutreiben.16

Diese Unterscheide in Wirtschaftsräumen verdeutlichen, dass es bei der Entwicklung von kontextueller Intelligenz darauf ankommt, nicht nur den Heimatmarkt zu verstehen, sondern auch andere Ausprägungen von Kontextfaktoren und lokalen Interaktionen in relevanten Teilen der Welt mit Rahmenbedingungen und einer Kultur, die sich vom Heimatmarkt unterscheiden. Das strategische Management hat den Einfluss dieser Unterschiede lange Zeit unterschätzt.17

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Ein aktuelles Beispiel liefert das neue Geschäftsmodell der Elektromobilität mit seiner unterschiedlichen Gestalt in Europa und in China. Für deutsche Hersteller von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor ist der wichtige chinesische Markt lange Zeit eine Erfolgsgeschichte gewesen. Bei der Elektromobilität droht sich das Blatt zu wenden. Chinesische Anbieter dominieren nicht nur ihren Heimatmarkt, sondern könnten mit ihrer hohen vertikalen Integration z.B. bei kleineren Fahrzeugklassen auch zu gefährlichen disruptiven Wettbewerbern in Europa werden.18 Die Herausforderung für deutsche Unternehmen liegt nun darin, ihr Geschäftsmodell an den chinesischen Markt anzupassen und den Heimatmarkt gegen Angreifer zu verteidigen.

Eine wichtige Empfehlung für europäische Unternehmen ist daher, dass diese sich im Rahmen der fünften Entwicklungsstufe des strategischen Managements intensiver mit dem tief in den Kulturen asiatischer Länder verankerten pragmatischen Strategieverständnis beschäftigen sollten. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, was zu tun ist und wie etwas zu tun ist. Die Antwort auf diese Frage liegt in der Orchestrierung von Vermögenswerten (Wuli), Fähigkeiten (Shili) und Beziehungen (Renli).19

 

Beziehungsorientierte Intelligenz verbessern

In der Ausbildung von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren kommt auch heute das Thema beziehungsorientierte Intelligenz bestenfalls am Rande vor.

Auf dem Weg zu erfolgreichen Unternehmensgründern oder Führungskräften in großen Organisationen haben diese Berufsgruppen die folgenden Optionen:

  • Sie können versuchen, sich die relevanten Fähigkeiten selbst beizubringen
  • sie erwerben eine Zusatzqualifikation, z.B. in Organisationspsychologie und/oder
  • sie vertrauen auf ein Learning by Doing in der Praxis.

Es wäre gut, wenn unsere Bildungs- und Weiterbildungsinstitutionen hierfür entsprechende Angebote entwickeln würden.

Absehbar ist, dass die Bedeutung der beziehungsorientierten Intelligenz weiter zunehmen wird. Die Entwicklung des Sprachmodells ChatGPT durch das Start-up-Unternehmen OpenAI und die Beteiligung von Microsoft haben einen Hype um das Thema generative Künstliche Intelligenz (KI) ausgelöst. Microsoft und Google kündigen an, ihre Suchmaschinen mit Hilfe von KI in Antwortmaschinen zu verwandeln. Die Fähigkeit von KI-Systemen, Gespräche zu führen und Texte zu schreiben, wird die Arbeitswelt verändern. Algorithmen übernehmen weitere Bereiche der traditionellen Wissensarbeit. Aber neben der Fähigkeit von Menschen zur Kooperation mit generativer KI sollten gerade Führungskräfte ihre Kompetenz in beziehungsorientierter Intelligenz verbessern. Denn hier hat KI noch immer große Defizite.

Dabei basiert die beziehungsorientierte Intelligenz auf den Fähigkeiten,20

  • ein harmonisches Verhältnis herzustellen
  • andere zu verstehen
  • individuelle Unterschiede wertzuschätzen
  • Vertrauen zu entwickeln und
  • den eigenen Einfluss zu kultivieren.

In der Abbildung sind die Fähigkeiten näher erläutert. Ein wirkungsvoller Ansatz, um bei diesen Fähigkeiten besser zu werden, ist die Zusammenarbeit mit erfahrenen Mentoren.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Ein wichtiges Anwendungsfeld für beziehungsorientierte Intelligenz im Rahmen einer Strategie 5.0 ist die Gestaltung von Stakeholder- und Innovationsökosystemen. Dabei verstehen wir unter dem Begriff Innovationsökosystem die Entstehungsphase eines Stakeholder-Ökosystems ausgehend von einem mehr oder weniger klar definierten Innovationsfeld. Die Zusammenarbeit zwischen einem etablierten Unternehmen, Wissenschaftlern an Hochschulen, Start-ups, neuen Lieferanten und Kunden sowie „schwierigen“ Akteuren in Politik, Verwaltung und Gesellschaft scheitert häufig an Defiziten bei der beziehungsorientierten Intelligenz der Interaktionspartner.

 

Verbindende Fähigkeiten

Die verschiedenen Entwicklungsstufen des strategischen Managements sind durch spezifische Mängel an verbindenden Fähigkeiten gekennzeichnet. In der gegenwärtigen fünften Stufe kommt es vor allem auf die Konnektivität von Stakeholder- und Innovationsökosystemen an.21 In der Abbildung sind diese Mängel zusammengefasst.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

In Innovationsökosystemen spielen konnektive Fähigkeiten, die kontextuelle Intelligenz und beziehungsorientierte Intelligenz verbinden, eine wichtige Rolle. Wir wollen das am Beispiel von Start-up-Ökosystemen verdeutlichen. Dabei hat der Begriff Start-up-Ökosystem oder Entrepreneurial Ecosystem22 eine Doppelbedeutung. Er beschreibt

  1. das Innovationsökosystem aus der Sicht eines einzelnen Start-ups bzw. dessen unternehmerischer Führung sowie
  2. das auf Start-ups bezogene Innovationssystem eines Landes oder einer Region.

Einige der verbindenden Fähigkeiten in Start-up-Ökosystemen wollen wir kurz erläutern.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Eine wichtige Rolle spielt die Verbesserung der politischen und kulturellen Rahmenbedingungen für erfolgreiche Start-ups, die in Deutschland seit Jahrzehnten gefordert wird. Leider hat es den Verantwortlichen wohl vor allem an kontextueller Intelligenz gefehlt, um die erforderliche Programme umzusetzen.

Ein weiterer Punkt ist die Orchestrierung von Forschungseinrichtungen, Start-ups, Wagniskapitalgebern und etablierten Unternehmen beim Technologietransfer. Das Bundesforschungsministerium arbeitet am Aufbau einer Deutschen Agentur für Transfer und Innovation (DATI), die helfen soll, die relevanten Akteure zu vernetzen. Es ist zu hoffen, dass dabei die Verbesserung der verbindenden Fähigkeiten nicht zu kurz kommt.

Ein dritter Aspekt ist die Zusammenarbeit von Führungskräften und Personalmanagern mit der heterogenen Generation Z und ihren spezifischen Bedürfnissen. Im gegenwärtigen War for Talents rät die 22-jährige Gen Z-Beraterin Yael Meier Unternehmen, die die Angeworbenen dauerhaft binden wollen, neben finanziellen Anreizen auf zwei Instrumente zu setzen: Interne Wertschätzung und externe Wertschätzung aufgrund einer positiven Außenwirkung der Organisation.23

Außerdem ist eine wichtige Frage, wie gut die weltweite Skalierung von Start-ups in unterschiedlichen Wirtschaftsräumen gelingt. Auch hierbei ist neben Kapitalkraft die Verbindung von kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz ein entscheidender Erfolgsfaktor.

 

Authentisches Führungsverhalten bei der Social-Media-Kommunikation

Ein neueres Einsatzgebiet für verbindende Fähigkeiten ist die Social-Media-Kommunikation von Führungskräften. Dabei hat die Bedeutung von Plattformen wie LinkedIn stark zugenommen. Neben der ursprünglichen Vernetzungsfunktion und der Rolle als Werkzeug bei der Rekrutierung und im Vertrieb24 nutzen immer mehr Führungskräfte LinkedIn als personalisiertes Instrument der Unternehmenskommunikation. Das Führungsverhalten in der sozial verbundenen Welt ist jedoch sehr unterschiedlich.25

Die Kölner Agentur Palmer Hargreaves hat die Social-Media-Kommunikation der CEOs deutscher börsennotierter Unternehmen analysiert und anhand mehrerer Kriterien bewertet.26 Spitzenreiter ist Markus Krebber von RWE, der gemeinsam mit seinem Team das Unternehmen in der Energiekrise politisch positioniert hat. Der drittplatzierte Timotheus Höttges von der Deutschen Telekom punktete mit der Breite der Stakeholder, die er erreicht. Eine Herausforderung für die „LinkedIn-Könige“ ist, sowohl die Professionalität einer Kommunikationsabteilung zu nutzen als auch persönlich authentisch zu wirken. Dies gelingt einer Reihe von Connected Leaders immer besser.

 

Fazit

  • Wichtige Grundlagen für die fünfte Entwicklungsstufe eines verbindenden strategischen Managements (Strategie 5.0) sind die Behandlung von Barrieren zwischen Stakeholdern als Wicked Problem, der Megatrend Konnektivität und die Theorie komplexer responsiver Beziehungsprozesse
  • Die Bewältigung von „bösartigen“ Problemen und komplexe responsive Beziehungsprozesse erfordern eine Verbindung von kontextueller und beziehungsorientierter Intelligenz, deren Förderung in der Führungskräfteentwicklung einen höheren Stellenwert bekommen sollte
  • Der Begriff kontextuelle Intelligenz beschreibt die Fähigkeit, das Zusammenwirken relevanter Einflussfaktoren im Umfeld zu verstehen und daraus Schlussfolgerungen abzuleiten. Führungskräfte sollten sich neben dem Heimatmarkt auch intensiver mit dem Kontext und lokalen Interaktionen in anderen Wirtschaftsräumen beschäftigen
  • Beziehungsorientierte Intelligenz basiert auf spezifischen, erlernbaren Fähigkeiten, die in der Führungskräfteentwicklung eine eher untergeordnete Rolle spielen, für den Erfolg von Stakeholder- und Innovationsökosystemen aber von großer Bedeutung sind
  • Eine strategische Führung, die kontextuelle und beziehungsorientierte Intelligenz verbindet, kann einen Beitrag zur Lösung „bösartiger“ Probleme leisten
  • Kontextuelle und beziehungsorientierte Intelligenz sowie deren Verbindung sind wichtige Bausteine einer Strategie 5.0. Die Defizite z.B. im deutschen Start-up-Ökosystem resultieren unter anderem aus einem Mangel an den erforderlichen konnektiven Fähigkeiten
  • Zukunftsorientierte Connected Leaders erkennt man an ihrer hohen Kompetenz bei einer authentischen Social-Media-Kommunikation in einer verbundenen Welt

 

Literatur

[1] Servatius, H.G.: Strategie 5.0 zur Bewältigung der neuen Herausforderungen. In: Competivation Blog, 28.06.2022

[2] Servatius, H.G.: Der Megatrend Konnektivität und seine Treiber. In: Competivation Blog, 26.10.2021

[3] Servatius, H.G.: Personalführung im Zeitalter eines Connective Managements. In: Competivation Blog, 19.01.2021

[4] Camillus, J.L.: Wicked Strategies – How Companies Conquer Complexity and Confound Competitors, Toronto 2016

[5] Stacey, R.: Tools and Techniques of Leadership and Management – Meeting the Challenge of Complexity, London 2012

[6] Servatius, H.G.: Gestaltung von innovativen Stakeholder-Ökosystemen. In: Competivation Blog, 10.01.2023

[7] Servatius, H.G.: Corporate Governance für den strategischen Wandel. In: Competivation Blog, 16.11.2022

[8] Mayo, A., Nohria, N.: Zeitgeist Leadership. In: Harvard Business Review, October 2005

[9] Nohria, N.: Andere Zeiten, andere Führung. In: Manager Magazin, Februar 2023, S. 78-82

[10] Gardner, H.: Frames of Mind – The Theory of Multiple Intelligences, New York, 1983

[11] Duggan, W.: Strategic Intuition – The Creative Spark in Human Achievement, New York 2007

[12] Servatius, H.G.: Wie Manager das Innovationssystem verhaltensökonomisch gestalten – Ein potenzialorientierter Ansatz. In: IM+io – Fachzeitschrift für Innovation, Organisation und Management, Heft 3, September 2015, S. 20-27

[13] Goleman, D.: Emotional Intelligence – Why it Can Matter More Than IQ, New York 1995

[14] Goleman, D., Boyatzis, R., McKee, A.: Emotionale Führung, München 2002

[15] Servatius, H.G.: Mentoring-Programme für die Entwicklung konnektiver Fähigkeiten. In: Competivation Blog, 10.05.2021

[16] Servatius, H.G.: Nachhaltige Entwicklung von Unternehmen mit einer Sustainability Map. In: Competivation Blog, 30.11.2021

[17] Khanna, T.: Contextual Intelligence. In: Harvard Business Review, September 2014

[18] Hubik, F., Tyborski, R.: Scheitern in China. In: Handelsblatt, 22. Februar 2023, S. 1, 4-5

[19] Nonaka, I., Zhu, Z.: Pragmatic Strategy – Eastern Wisdom, Global Success, Cambridge 2012, S. 276 ff., S. 298 ff.

[20] Bandelli, A.C.: Relational Intelligence – The Five Essential Skills You Need to Build Life-Changing Relationships, Murrels Inlet 2022

[21] Servatius, H.G.: Let’s Connect! Personalentwicklung für Stakeholder-Ökosysteme. In: IM+io – Best & Next Practices aus Digitalisierung, Management und Wirtschaft, Heft 1, März 2023, S. 40-43

[22] Spigel, B.: Get Social – Social Media Strategy and Tactics for Leaders, London 2018

[23] Banze, S., Steinharter, H.: Sturm und Drängeln. In: Manager Magazin, März 2023, S. 114-119

[24] Disney, D.: The Ultimate LinkedIn Sales Guide, Chichester 2021

[25] Corrille, M.: Get Social – Social Media Strategy and Tactics for Leaders, London 2018

[26] Beil, J., Müllender, A.: Die LinkedIn-Könige. In: Handelsblatt, 3./4./5. März, S. 52-53

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