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Warum der digitale Wandel evolutionär verläuft

Warum der digitale Wandel evolutionär verläuft

Der Versuch, etablierte Organisationen digital zu transformieren, führt oft zu enttäuschten Erwartungen. Eine digitale Evolution ist Erfolg versprechender.

 

In diesem Blogpost stellen wir das grundlegende Verständnis, wie sich der digitale Wandel vollzieht, auf den Prüfstand.

 

Defizite bei der Digitalisierung

Defizite bei der Digitalisierung haben in unserem Land viele Ursachen. Offensichtlich fehlen auf der politischen Ebene sowohl ein Konzept zur Koordination der verschiedenen Ministerien als auch ein Ansatz zur Umsetzung notwendiger Programme.1 Aber auch beim Technologietransfer von der Grundlagenforschung zu praktischen Anwendungen klaffen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. So hat z.B. das mit vielen Millionen Euro geförderte Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) den Trend zum maschinellen Lernen verpasst.2

Neben diesen Versäumnissen geht aber auch das grundlegende Verständnis des digitalen Wandels möglicherweise von falschen Annahmen aus. Eine solche Fehleinschätzung ist die Vorstellung vieler Beobachter, die Digitalisierung verlaufe in Form einer Transformation.

 

Digitale Transformation oder Evolution?

Ohne Zweifel gehört die Digitalisierung zu den großen Herausforderungen für Organisationen. Es mehren sich jedoch die Stimmen von Praktikern, die meinen, der weit verbreitete Begriff digitale Transformation sei inzwischen zu einem Schlagwort mit unklarer Bedeutung geworden, das in die Irre führe und vielleicht sogar den Wandel gefährde.3 Immerhin spreche man seit rund fünfzig Jahren von Digitalisierung und ein Ende dieses Prozesses ist nicht absehbar.

Außerdem passe der Begriff digitale Evolution (oder Entwicklung) besser, da offene Systeme ständig in Bewegung sind. Hieraus resultiere die Bedeutung der Fähigkeit umzudenken, die den Erfolg von Digitalunternehmen ausmache. In einer Reihe von Branchen wie z.B. dem Handel komme es auch nicht zu einem vollständigen Wandel vom Analog- zum Digitalgeschäft, wie der Begriff Transformation suggeriere, sondern zu einer spezifischen Verbindung von analogen und digitalen Elementen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass digitale Transformationsprogramme oft nicht die mit diesem Begriff verbundenen hohen Erwartungen erfüllen. Dennoch hält sich die Vorstellung von einer umfassenden Transformation etablierter Organisationen ausgehend von digitalen Technologien hartnäckig.4

Häufig spricht man auch von einer notwendigen digitalen Transformation, wenn, wie z.B. in der öffentlichen Verwaltung, über Jahrzehnte versäumt wurde, notwendige Maßnahmen umzusetzen. In diesem Kontext hat der Begriff eine reaktive Komponente, die auf Führungsdefizite hindeutet.

Besorgniserregend ist darüber hinaus, dass der Begriff einer digitalen und auch ökologischen Transformation aller Lebensbereiche gerne von politischen Gruppierungen benutzt wird, die eigentlich einen umfassenden Systemwechsel mit radikalen Veränderungen anstreben. Transformation ist hier ein Tarnbegriff, der in Wahrheit eine politische Machtverschiebung meint, dies aber nicht offen ausspricht.

 

Gemeinsamkeit und Unterschiede

Beim Thema Digitalisierung hat die Managementlehre den Transformationsbegriff relativ unkritisch aus der Politikwissenschaft übernommen.5 Daher gehen wir der Frage nach, was mit Transformation und was mit Evolution gemeint ist. Hieraus ergeben sich die Unterschiede zwischen einer digitalen Transformation und einer digitalen Evolution.

Eine Gemeinsamkeit beider Konzepte ist die Anwendung digitaler Querschnittstechnologien, deren Ursprünge z.B. bei der Künstlichen Intelligenz in den 1950er Jahren und beim Internet der Dinge in den 1990er Jahren liegen.6 Insbesondere die Konvergenz dieser Technologiefelder zu einer Artificial Intelligence of Things (AIoT) hat einen starken Einfluss (Impact) auf Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. So sind digitale Technologien zu einer wichtigen Quelle für Wettbewerbsvorteile von Unternehmen und den Wohlstand von Staaten geworden.

Der Begriff Transformation beschreibt die grundlegende Veränderung z.B. eines politischen Systems oder des Geschäftsmodells eines Unternehmens. Eng mit diesem Begriff verknüpft ist die Vorstellung des Übergangs (Transition) von einem (Gleichgewichts-)Zustand zu einem anderen. Oft geht dies einher mit einer negativen Bewertung des alten und einer positiven Bewertung des neuen Zustands. Ein Beispiel ist die Unterscheidung zwischen der Old Economy und einer New Economy um die Jahrtausendwende. Eine solche negative Bewertung des alten Zustands führt nicht selten zum Widerstand der betroffenen Akteure und der Entstehung von Blockaden z.B. von Teilen der etablierten Organisation gegenüber neuen Digitaleinheiten.

Interessant ist auch, dass Unternehmen, deren Geschäftsmodell von einer digitalen Disruption bedroht ist, wie z.B. in der Tourismusbranche oder im Handel, häufig nicht mit einer umfassenden Transformation reagieren, sondern mit einer hybriden Strategie, die die Fortsetzung des analogen Geschäfts mit einer schrittweisen Digitalisierung kombiniert. So hat der Lebensmittelhändler Rewe vor knapp sieben Jahren das damalige Start-up Commercetools akquiriert, das Software für den elektronischen Handel entwickelt und heute sehr erfolgreich ist. Rewe-Chef Lionel Souque ist der Meinung, der Tanker Rewe brauche viele kleine Schnellboote. die ungefähr in die gleiche Richtung fahren, denen man aber ansonsten Freiheiten lässt.5 Diese Strategie lässt sich eher als digitale Evolution beschreiben.

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Als Evolution bezeichnet man allgemein die schrittweise Weiterentwicklung z.B. von biologischen, technischen, wirtschaftlichen oder sozialen Systemen. Evolution ermöglicht eine Bewältigung von Komplexität durch geeignete Rahmenbedingungen und eine stärker selbstorganisierte Zusammenarbeit der Akteure. Im Mittelpunkt stehen gemeinsame ergebnisoffene Lernprozesse ausgehend von Hypothesen, die getestet werden. Eine zentrale Erkenntnis der neueren Komplexitätstheorie ist, dass dieses Erfolgsmuster nicht auf die Evolution von biologischen Systemen beschränkt ist, sondern auch für Organisationen und Volkswirtschaften gilt.8 Dabei ist wichtig, dass ein evolutionärer Ansatz die Verbindungen (Konnektivität) zwischen Systemen, ihren Bausteinen und den relevanten Akteuren (Stakeholdern) fördert.9 Deshalb erscheint das Konzept einer Evolution oder Koevolution besser als ein transformativer Ansatz für die Digitalisierung von politischen und wirtschaftlichen Systemen geeignet.

 

Disruptive Geschäftsmodelle und eine neue Phase der Produktivitätssteigerung

Eine solche digitale Evolution von Unternehmen vollzieht sich gegenwärtig in zwei wichtigen Handlungsfeldern, die miteinander verbunden sind. Der Fokus des ersten Handlungsfeldes, das mit dem Online-Handel (E-Commerce) Mitte der 1990er Jahre begonnen hat, liegt bei der Disruption durch innovative Geschäftsmodelle und dort insbesondere bei den Bausteinen Wertversprechen, Kundenkanäle und Art der Gewinnerzielung.10

Das zweite Handlungsfeld startete als Weiterentwicklung des Business Process Reengineering Ende der 1990er Jahre mit dem Process Mining. Der 2011 geprägte Begriff Industrie 4.0 betonte die Bedeutung von Anwendungen in der Produktion. Aus einer Verknüpfung dieser Ansätze mit der AIoT-Technologie Robotic Process Automation (RPA) hat sich eine neue Phase der Produktivitätssteigerung entwickelt.11 Das Münchner Start-up-Unternehmen Celonis bezeichnet dies als Execution Management System (EMS), SAP spricht von Business Process Intelligence (BPI). Parallel zu dieser Digitalisierung der Prozesse entwickelten sich die Anbieter von Low-Code-Software weiter. So wurde z.B. das israelische Start-up-Unternehmen Monday.com bei seinem Börsengang in den USA mit sieben Milliarden Dollar bewertet.12

 

 

Die Disruption durch innovative Geschäftsmodelle geht vor allem von Start-ups und den großen Tech-Konzernen aus. Da die angegriffenen etablierten Unternehmen Ausmaß und Geschwindigkeit der Disruption schwer einschätzen können, reagieren sie häufig mit dem Aufbau von Corporate Digital Units, die in der Regel einen kulturellen Abstand zur Basisorganisation haben.13 Viele Unternehmen befinden sich gegenwärtig in dieser Phase, Andere wie z.B. Daimler haben sich bereits wieder von einem solchen Ansatz verabschiedet und setzen auf die innovative Weiterentwicklung des Kerngeschäfts.14

 

Die digitale Architektur als Barriere

Eine bedeutende Barriere für die von einer Disruption des eigenen Geschäfts-modelles betroffenen Unternehmen ist ihre digitale Architektur. Häufig existiert keine zentrale Technologie- und Daten-Plattform oder man befindet sich in einer großen Abhängigkeit von Plattform-Partnern, die einen wichtigen Teil der KI-basierten Wertschöpfung übernehmen.15

Die Relevanz dieser Barriere resultiert unter anderem daraus, dass eine weiterentwickelte digitale Architektur das Bindeglied zwischen innovativen Geschäftsmodellen und produktiveren Prozessen bildet.

 

Zunehmende Bedeutung von Business Process Intelligence

Wichtige Impulse für das Process Mining sind von dem niederländischen Professor Wil van der Aalst ausgegangen, der an der RWTH Aachen die Gruppe Process and Data Science leitet.16 In Verbindung mit Robotic Process Automation entstehen in praktisch allen Branchen und auch im öffentlichen Sektor neue Möglichkeiten zur Steigerung der Produktivität von Kernprozessen. Der Co-Geschäftsführer von Celonis, Bastian Nominacher schätzt, dass der adressierbare Markt 60 bis 70 Milliarden Dollar groß ist.17 Wil von der Aalst arbeitet neben seiner Tätigkeit an der RWTH Aachen als Chef-Wissenschaftler für Celonis.18

Nach der Übernahme des Start-ups Signavio sieht SAP den Geschäftsbereich Business Process Intelligence als Kern seines Geschäftsmodells.19 Natürlich wird es bei dieser neuen Phase einer AIoT- getriebenen Produktivitätssteigerung Pioniere und Nachzügler geben. Leider gehören zu den Nachzüglern in Deutschland auch die öffentlichen Verwaltungen, für die das Thema eine große Herausforderung darstellt.

Ein konnnektives Management, das disruptive Geschäftsmodelle und produktivere Prozesse verbindet, entwickelt den seit langem bekannten Ambidextrie-Ansatz weiter, der eine Balance zwischen Exploration und Exploitation anstrebt.20 Die großen Digitalkonzerne setzen dabei auf das Rahmenkonzept einer Plattform-Organisation mit agilen Teams.21

 

Führungskompetenzen bei einer digitalen Evolution

Möglicherweise hat sich der Begriff der digitalen Transformation so lange gehalten, weil er gut zu einem machtdominierten traditionellen Management passt, bei dem die Chefetage strategische Pläne entwickelt, die die „Untergebenen“ dann umsetzen. Diese Vorstellung ist natürlich so heute nicht mehr zeitgemäß. In meiner 1991 erschienenen Habilitation habe ich die notwendig erscheinende Weiterentwicklung des strategischen Managements zu einer evolutionären Führung beschrieben.22 Im Mittelpunkt stehen dabei die Gestaltung eines Ordnungsrahmens für gemeinsame Lernprozesse und das Hinterfragen von Annahmen.

Dreißig Jahre später argumentiert der Organisationspsychologe und Wharton-Professor Adam Grant ähnlich. Er unterscheidet zwischen den Mindsets von Predigern, Politikern, Staatsanwälten und Wissenschaftlern. Der Mindset traditioneller Manager gleiche dem der drei erstgennanten Berufsgruppen. Dabei bestehe aber immer die Gefahr einer Selbstüberschätzung. Der Mindset erfolgreiche Start-ups und Digital-Unternehmer ähnele hingegen eher dem von Wissenschaftlern. Charakteristisch für deren Mindset seien Zyklen des Überdenkens, die durch Demut. Zweifel und Neugier geprägt sind.23

 

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Ein solcher Rethinking Cycle anstelle des Overconfidence Cycle bildet die Grundlage für eine erfolgreiche digitale Evolution. Der Overconfidence Cycle kann hingegen leicht zu der irrigen Annahme führen, der Prozess einer digitalen Transformation sei abgeschlossen.

Für Deutschland, das sich ja gerne als Land der Denker, Wissenschaftler und Ingenieure sieht, sind das eigentlich gute Nachrichten. Es wäre allerdings notwendig, bei der Vermittlung von Führungskompetenzen stärker auf evolutionäre Zyklen des Überdenkens und agile Umsetzungsprozesse zu setzen.

 

Fazit

  • Die Digitalisierung verläuft eher nach dem Muster einer digitalen Evolution als dem einer digitalen Transformation
  • Die beiden miteinander verbundenen Handlungsfelder einer digitalen Evolution sind die Disruption durch innovative Geschäftsmodelle und eine Produktivitätssteigerung mit Business Process Intelligence
  • In beiden Handlungsfeldern spielt die Gestaltung eines Ordnungsrahmens für gemeinsame Lernprozesse eine zentrale Rolle
  • Wichtige Führungskompetenzen erfolgreicher Digital-Unternehmer sind die Moderation von Zyklen des Überdenkens von Hypothesen und eine Förderung agiler Umsetzungsprozesse

 

Literatur

[1] Alvares de Souza Soares, P., Kyriasoglou, C.: Systemausfall im Kanzleramt. In: Manager Magazin, Oktober 2021, S. 78-84

[2] Scholz, C.: Anspruch und Realität. In: Handelsblatt, 20. September 2021, S.12-13

[3] MacInnes, B.: Digital Transformation or Digital Evolution. In: MicroScope, 1. April 2021

[4] Saldanha, T.: Why Digital Transformations Fail – The Surprising Disciplines of How to Take Off and Stay Ahead, Oakland 2019

[5] Sandschneider, E.: Stabilität und Transformation politischer Systeme – Stand und Perspektiven politikwissenschaftlicher Transformationsforschung, Wiesbaden 1995

[6] Kaufmann, T., Servatius, H.G.: Das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz als Game Changer – Wege zu einem Management 4.0 und einer digitalen Architektur, Wiesbaden 2020, S. 3ff.

[7] Kolf, F.: Rewe baut Tech-Einhorn auf. In: Handelsblatt, 13./15./16. Mai 2021, S. 22

[8] Beinhocker, E.D.: Die Entstehung des Wohlstands – Wie die Evolution die Wirtschaft antreibt, Landsberg am Lech 2007

[9] Servatius, H.G.: Komplexitätsbewältigung als Treiber eines Connective Managements. In: Competivation Blog, 31.03.2021

[10] Kaufmann, Servatius, a.a.O., S. 31 ff.

[11] Kaufmann, Servatius, a.a.O., S. 93 ff.

[12] Jahn, T.: Workflow-Software zum Selberbauen. In: Handelsblatt, 14. Juni 2021, S. 44

[13] Kaufmann, Servatius, a.a.O., S. 73 ff.

[14] Kyriasoglou, C.: Ausgebremst. In: Manager Magazin, Februar 2020, S. 62-66

[15] Iansiti, M., Lakhani, K.R.: Competing in the Age of AI – Strategy and Leadership When Algorithms and Networks Run the World, Boston 2020

[16] van der Aalst, W.M.P.: Process Mining – Data Science in Action, Second Edition, Heidelberg 2016

[17] Holzki, L.: Celonis-Chef: „Wir haben noch viel größere Visionen“. In: Handelsblatt, 4./5./6. Juni 2021, S. 16-17

[18] Holzki, L.: Chefwissenschaftler für das wertvollste Start-up. In: Handelsblatt, 25. August 2021, S. 46

[19] Kapalschinski, C., Kerkmann C.: SAP will Milliardenzukauf zum Zukunftskern machen. In: Handelsblatt, 1. Juni 2021, S. 21

[20] Tushman, M.L., O’Reilly C.A.: Ambidextrous Organization – Managing Evolutionary and Revolutionary Change. In: California Management Review, 1996, Nr. 4, S. 8-30

[21] Servatius, H.G.: Die Ressourcen-Plattform mit agilen Teams als neue Organisationsform. In: Competivation Blog, 12.01.2021

[22] Servatius, H.G.: Vom strategischen Management zur evolutionären Führung – Auf dem Wege zu einem ganzheitlichen Denken und Handeln, Stuttgart 1991

[23] Grant, A.: Think Again – The Power of Knowing What You Don’t Know, London 2021, S. 27ff.

Mentoring-Programme für die Entwicklung konnektiver Fähigkeiten

Mentoring-Programme für die Entwicklung konnektiver Fähigkeiten

Bei der Aus- und Weiterbildung von Managern kommt das Thema Konnektivität zu kurz. Abhilfe schaffen kann eine neue Form von Mentoring-Programmen.

 

In diesen Blogpost erläutern wir, wie ein Mentoring for Connectivity bei der Bewältigung komplexer Aufgaben hilft.

 

Verbindung von strategischen Verhaltensmustern

Im Wettbewerb um das beste Auto-Betriebssystem treten die europäischen Hersteller und Zulieferer gegen Techkonzerne an. Bei diesem Wettbewerb spielt Softwarekompetenz eine entscheidende Rolle. So kommt eine McKinsey-Studie zu dem Ergebnis, dass der Markt für Autosoftware von heute rund 35 Milliarden US-Dollar bis 2030 auf rund 84 Milliarden wachsen wird.1

Zur Bewältigung komplexer Aufgaben wie der Digitalisierung von Automobilen müssen Führungskräfte heute in der Lage sein, unterschiedliche strategische Verhaltensmuster zu verbinden. Unter diesem Begriff verstehen wir die häufig tief in der Kultur einer Organisation verankerten Verhaltenscharakteristika der Strategiearbeit.2 Neben dem visionären und dem analyseorientierten Muster werden das in Plattform-Unternehmen ausgeprägte kooperative Muster und das agile Muster von Start-ups immer wichtiger. Eine situationsgerechte Verbindung dieser Muster ist jedoch nicht einfach. Im Rahmen von sogenannten T-shaped Skills erfordert eine solche Verbindung besondere konnektive Fähigkeiten.

 

T-shaped Skills

Der Begriff T-shaped Skills beschreibt die Kombination aus der Tiefe der Fähigkeiten in einem Gebiet und der Breite der Fähigkeiten. Wer über „T-förmige Fähigkeiten“ verfügt, ist also sowohl Spezialist als auch Generalist.3 Bei der Aus- und Weiterbildung von Managern dominierte lange Zeit die Spezialisierung. So wurden Ingenieure zu Technologie-Spezialisten und Betriebswirte zu Funktionsspezialisten trainiert. Diese Fokussierung bildete die Grundlage für den angestrebten Expertenstatus, eine Beurteilung durch Vorgesetzte und weit verbreitete Silokarrieren.

Lernprozess Innovationsstrategie

Die Defizite dieser Schwerpunktsetzung auf den vertikalen T-Balken sind seit langem bekannt. Neben der Spezialisierung sollten Führungskräfte daher auch über eine gewisse Breite an Fähigkeiten verfügen, die der horizontale T-Balken symbolisiert.

Als Erfolg versprechender Weg zur Erlangung dieser Fähigkeiten gilt das Projektmanagement. Auch der Erfolg von agilen Methoden wie Design Thinking und Scrum basiert nicht zuletzt auf dem Nutzenversprechen einer Förderung von Interdisziplinarität. Bei keiner dieser Methoden liegt jedoch der Schwerpunkt auf einer Verbindung unterschiedlicher Denk- und Verhaltensmuster. Diese immer wichtiger werdenden Fähigkeiten werden eher vorausgesetzt und bei der Anwendung z.B. von Design Thinking praktiziert.

Wir vertreten daher die These, dass die Aus- und Weiterbildung von Managern konnektive Fähigkeiten vernachlässigt. Diese Defizite treten z.B. beim digitalen Wandel deutlich zu Tage. So haben viele Unternehmen Schwierigkeiten bei der Verbindung zwischen einem eher stabilitätsorientierten und einem agilen Mindset.4 Ein vielversprechender Ansatz zur Bewältigung dieser Schwierigkeiten sind Mentoring-Programme.

 

Formen des Mentoring

Die Wurzeln des Begriffs Mentoring liegen in der griechischen Mythologie. So vertraute einst Odysseus seinen Sohn dem Freund Mentor an, als er in den Trojanischen Krieg aufbrach. In Unternehmen unterstützt ein erfahrener Mentor, der bzw. die nicht Vorgesetzter einer anderen Person ist, seinen Mentee über einen bestimmten Zeitraum. Bei der klassischen Anwendung dieses Personalentwicklungs-konzepts kommt der Mentor aus dem eigenen Unternehmen. Die inhaltlichen Schwerpunkte liegen bei der Begleitung z.B. beim Eintritt in das Unternehmen oder einer Beförderung.

Daneben gibt es auch das Cross Mentoring durch Vertreter anderer Unternehmen. So bereiten ehemalige Top-Manager von Chairman Mentors International Führungskräfte auf neue Aufgaben vor. Auch Personal- und Strategieberater wie Egon Zehnder, McKinsey und die Boston Consulting Group haben das Potenzial dieses Marktes erkannt.5

Lernprozess Innovationsstrategie

Während in der Vergangenheit der Schwerpunkt des Mentoring bei den vorhandenen Aufgaben lag, beschäftigt sich das New Mentoring explizit mit innovativen Managementthemen. Mentoren können wie z.B. beim Reverse Mentoring als junge Digitalexperten aus dem eigenen Unternehmen kommen oder auch von außen. Ein solches innovatives Thema ist die Weiterentwicklung verbindender Fähigkeiten und deren Anwendung im Rahmen eines Connective Managements.6

 

Konnektive Fähigkeiten in Software-Unternehmen

Das Konzept eines Connective Managements, das sowohl Management- und Organisationsbausteine als auch die relevanten Akteure verbindet, ist in erfolgreichen Digital-Unternehmen entstanden. Eine besondere Rolle spielt dabei die gegenüber dem klassischen Management veränderte Beziehung zwischen der Führungsebene und den Softwareentwicklern. Während Unternehmensgründer im Handwerk und in Hidden Champions in der Regel auch die ausführenden Tätigkeiten beherrschen, hat das Top-Management etablierter Unternehmen häufig eine große fachliche Distanz zur Arbeitsebene. Dies ist in Software-Unternehmen anders. Viele der Gründer und Top-Manager kommen selbst aus dem Software Engineering und pflegen daher eine enge Zusammenarbeit mit Programmierern und Datenexperten. Die Führungsebene verfügt also über ausgeprägte konnektive Fähigkeiten, die das Verhältnis zwischen der Entwicklung und der Umsetzung von Strategien prägen.

 

Phasen der Software-Wertschöpfung

Von erfolgreichen Software-Unternehmen kann man nicht nur lernen, wie sich die Software-Wertschöpfung verändert hat, sondern auch, wie diese Unternehmen die Zusammenarbeit von Führungskräften, Software-Ingenieuren und Kunden gestalten.7

Die Software-Wertschöpfung hat in den letzten Jahrzehnten verschiedene Phasen durchlaufen

  • von der Entwicklung von Lösungspaketen wie Enterprise Resource Planning (ERP) durch wenige große Anbieter
  • über Software as a Service (SaaS)
  • bis zur Kooperation mit Platform as a Service (PaaS-) Anbietern, die eine relative kostengünstige Infrastruktur für Software-Microservices liefern.

Dabei ist die Eigenentwicklung von Software zu einem zentralen Faktor der kundenorientierten Erzielung von Wettbewerbsvorteilen geworden. Im Zeitalter von „Build and buy Software or die“ spielt daher die Konnektivität von Kunden, Unternehmensführung und Software Engineering eine entscheidende Rolle.

 

Mentoring for Connectivity

Die Herausforderung für etablierte Unternehmen beim digitalen Wandel liegt darin, dass sich Führungskräfte und Softwareentwickler im Hinblick auf die Kundenorientierung weiterentwickeln. Eine zentrale Frage für die Führung ist: Was ist das Kundenproblem? Bei der Beantwortung der Frage, wie dieses Kundenproblem zu lösen ist, brauchen Software-Ingenieure einen gewissen Freiraum.

Lernprozess Innovationsstrategie

 

Ein Mentoring for Connectivity hilft beiden Gruppen, mentale Barrieren (Mindtraps) zu überwinden.8 Dabei lernen die Führungskräfte, die Arbeitsweise von Softwareentwicklern besser zu verstehen. Parallel dazu lernen die Software-Ingenieure, sich auf die Erwartungen von Führungskräften einzustellen. Die Überwindung von „Ego-Fallen“ im Rahmen des eigenen Karriereweges ist eine der vielen Aufgaben eines New Mentoring, bei dem Spezialisten für neue Managementthemen helfen können.

 

Digitale Entwicklung als gemeinsamer Lernprozess

Angesichts des mäßigen Erfolgs vieler Programme zur digitalen Transformation wird es Zeit umzudenken. Führende Software-Unternehmen wenden – bewusst, wie z.B. Alphabet oder unbewusst – Erkenntnisse der Komplexitätstheorie an.9

Sie schaffen günstige Rahmenbedingungen für eine verbesserte Konnektivität der technischen Bausteine und der relevanten Akteure. Die angestrebte digitale Entwicklung in etablierten Unternehmen sollte ebenfalls an diesen Hebeln ansetzen. Mit einem Augenzwinkern könnte man daher fragen: Stecken Sie noch in der digitalen Transformation fest oder gestalten Sie diese Entwicklung als motivierenden Lernprozess?

 

Fazit

  • Konnektive Fähigkeiten verbinden unterschiedliche Denk- und Verhaltensmuster
  • Mentoring-Programme helfen, Defizite bei diesen Fähigkeiten zu überwinden
  • Von Software-Unternehmen können etablierte Organisationen lernen, wie man die Konnektivität von Kunden, Unternehmensführung und Software Engineering als Quelle von Wettbewerbsvorteilen nutzt
  • Ein Mentoring for Connectivity hilft bei der Überwindung von mentalen Barrieren

 

Literatur

[1] Fasse, M. et al.: Der Wettstreit um das Gehirn des Autos. In: Handelsblatt, 03. Mai 2021, S. 6-8

[2] Kaufmann, T., Servatius, H.G.: Das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz als Game Changer – Wege zu einem Management 4.0 und einer digitalen Architektur, Wiesbaden 2020, S. 68ff.

[3] Leonard-Barton, D.: Wellsprings of Knowledge – Building and Sustaining the Sources of Innovation, Boston 1995, S. 74 ff.

[4] Servatius, H.G.: Wege zu einem agilen Mindset. In: Competivation Blog, 09.08.20218

[5] Buchhorn, E.: Lernen von den Besten. In: Manager Magazin, November 2020, S. 96-103

[6] Servatius, H.G.: Komplexitätsbewältigung als Treiber eines Connective Managements. In: Competivation Blog, 31.03.2021

[7] Lawson, J.: Ask Your Developer – How to Harness the Power of Software Developers and Win in the 21st Century, New York 2021

[8] Garvey Berger, J.: Unlocking Leadership Mindtraps – How to Thrive in Complexity, Stanford 2019, S. 112 ff.

[9] Brown, S. L., Eisenhardt, K. M.: Competing on the Edge – Strategy as Structured Chaos, Boston 1998

[10] Kaufmann, Servatius, a.a.O., S. 73 ff.

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