Angesichts großer Herausforderungen wie der resilienten, digitalen und ökologischen Neuausrichtung von Unternehmen, Branchen und Regionen muss sich bei der Aus- und Weiterbildung der Anteil eines problemorientierten Lernens erhöhen. Entscheidend für den Erfolg ist die Fähigkeit, Lösungen für komplexe Managementprobleme zu gestalten. Eine wichtige Grundlage hierfür bildet die Managementtheorie komplexer evolutionärer Systeme. Die Anwendung dieses Ansatzes, der sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, wird an Business Schools bislang kaum gelehrt. Ein praktisches Vorgehen ist die von uns in vielen Projekten erprobte DSCMP-Methode. Dabei steht DSCMP für Designing Solutions for Complex Management Problems.
In diesem neuen Blogpost erläutere ich die theoretischen Grundlagen der DSCMP-Methode und einen allgemeinen Vorgehensrahmen, der an spezifische Problemsituationen angepasst wird.
Womit sich Studierende, aber auch Praktiker schwertun
Eine Prüfungsaufgabe, bei der die meisten Studierenden Schwierigkeiten haben, lautet: Erläutern Sie bitte anhand eines Beispiels ein Konzept und ein Vorgehen zur KI-basierten strategischen Neuausrichtung. Dabei macht es keinen großen Unterschied, ob nach einer digitalen oder ökologischen Neuausrichtung gefragt wird. Lösungen für komplexe Managementprobleme zu gestalten, fällt aber nicht nur Studierenden schwer, sondern auch erfahrenen Praktikern in Unternehmen. Offenbar kennen beide Gruppen weder geeignete theoretische Grundlagen noch eine praktikable Vorgehensweise, die sie anwenden könnten. Daher möchte ich mit der Erläuterung der Theorie beginnen.
Managementtheorie komplexer evolutionärer Systeme
Die Managementtheorie komplexer evolutionärer Systeme ist aus der Verbindung von drei Entwicklungslinien entstanden, deren Anwendung im Management bessere strategische Neuausrichtungen ermöglicht.1 Diese Pfade, die ich im Folgenden skizziere, sind:
- Der Weg von Ökosystemen zu Systemtheorien
- die Anwendung der Evolutionstheorien in der Ökonomie und
- eine Übertragung der Theorie komplexer adaptiver Systeme auf die Lösung von Managementproblemen.
Den Begriff Ökosystem hat neben anderen bereits 1935 der Biologe Arthur Tansley definiert (Oikos, das Haus und Systema, das Verbundene). Das seit den 1940er Jahren u.a. durch Norbert Wiener geprägte Fachgebiet der Kybernetik beschäftigt sich mit der Regelung von Systemen. 1959 definierte Stafford Beer den Begriff Management-Kybernetik.2 Seit den 1950er Jahren hat sich eine allgemeine Systemtheorie entwickelt. Danach befinden sich offene Systeme in einem dynamischen Austausch mit ihrer Umwelt. Die von Talcott Parsons begründete soziologische Systemtheorie betrachtet Handlungen als konstitutive Elemente sozialer Systeme. Zur strukturellen und funktionalen Analyse sozialer Systeme entwickelte Parson 1951 das AGIL-Schema (Anpassung, Zielerreichung, Zusammenhalt der Subsysteme und Strukturerhalt durch Wertebindung).3 An der Universität St. Gallen hat Hans Ulrich seit den 1960er Jahren das Konzept einer systemorientierten Managementlehre begründet.4 Seit den 1990er Jahren gewinnen die Begriffe Wirtschafts-, Stakeholder-, Start-up- und KI-Ökosystem an Bedeutung.
Die in verschiedenen Disziplinen entstandenen Evolutionstheorien (von evolvere, entwickeln) haben eine lange Geschichte. Für die Ökonomie von besonderer Bedeutung ist das von dem späteren Wirtschaftsnobelpreisträger (1974) Friedrich August von Hayek in den 1960er Jahren entwickelte Konzept einer spontanen Ordnung. Diese ist das Ergebnis selbstorganisierter Prozesse, die im Laufe der Zeit entstehen und auf Regeln basieren, die sich verändern können.5 Eine wichtige Grundlage für das Konzept einer evolutionärer Organisationstheorie der Münchener Schule um Werner Kirsch6 ist die von dem Philosophen Jürgen Habermas entwickelte Theorie eines kommunikativen Handels.7 Ein evolutionärer Verlauf im Management ist durch die dynamische Abfolge von Ungleichgewichten gekennzeichnet.
Die interdisziplinäre Theorie komplexer adaptiver Systeme ist am Santa Fé Institute in New Mexico (USA) entstanden, das von dem Physik-Nobelpreisträger Murray Gell-Mann (1969) im Jahr 1984 mitgegründet worden ist. Ein solches System nimmt Informationen über seine Umwelt und seine eigene Wechselwirkung mit dieser Umwelt auf, erkennt Regelmäßigkeiten und verdichtet diese zu konkurrierenden Modellen. Die resultierenden Handlungen wirken auf diese Modelle zurück. Eine wichtige Managementempfehlung ist, geeignete Rahmenbedingungen für eine stärker selbstorganisierte Interaktion kompetenter Akteure zu schaffen.8 Hierauf bauen die agilen Methoden auf. Die Theorie komplexer responsiver Beziehungsprozesse betont die Bedeutung lokaler, nichtlinearer Interaktionen von Akteuren, aus deren Verlauf sich schwer prognostizierbare Muster ergeben.9
Die Theorie komplexer evolutionärer Systeme hat einen Paradigmenwechsel im strategischen Management eingeleitet, den seit den 1990er Jahren vor allem erfolgreiche Digital-Unternehmen vorantreiben.10 Die Charakteristika dieser für viele etablierte Unternehmen neuen Managementtheorie sind: Offenheit, Dynamik, Verbundenheit, Nichtlinearität, Emergenz, Pfadabhängigkeit, Adaptivität, Selbstorganisation und Lernschleifen.
Es stellt sich nun die Frage, wie diese theoretische Grundlage Lehrenden und Lernenden in der Praxis helfen kann, Lösungen für komplexe Managementprobleme zu gestalten.
Vorgehen bei der DSCMP-Methode
Die DSCMP-Methode ist im Rahmen unserer Beratungs-, Lehr- und Forschungstätigkeit entstanden. Consultants werden meist gerufen, wenn Organisationen nach Unterstützung bei der Lösung von komplexen Managementproblemen suchen. Eine Beratungstätigkeit führt aber nur zu dauerhaften Erfolgen, wenn es gelingt, Führungskräften und Mitarbeitenden die relevanten Fähigkeiten zu vermitteln.
Die Gestaltung von Lösungen für komplexe Managementprobleme erfordert einen konzeptionellen Rahmen, den Projektteams an die jeweilige Situation anpassen. Die wesentlichen Phasen des iterativen Prozesses bei der DSCMP-Methode zeigt die folgende Abbildung. Die didaktische Herausforderung liegt in der Vermittlung der Fähigkeit zur Anpassung dieser Vorgehensweise an neue komplexe Probleme.
Bei der DSCMP-Methode werden in der ersten Phase interdisziplinäre Programm- und Projektteams gebildet, die an ein Führungsgremium berichten. Die Struktur und Zusammensetzung dieser Teams können sich im Verlauf der Arbeit ändern.
In Phase 2 stellt sich die Aufgabe, relevante Informationen und verschiedene Sichtweisen zusammenzuführen. Das Ziel ist, ein komplexes Problem und seine Ursachen zu verstehen und möglichst genau zu beschreiben.
Hieran schließt sich der wichtige Schritt einer verbindenden Gestaltung von kreativen Lösungsansätzen an. Beispiele sind der Aufbau einer Wasserstoff-Wertschöpfung und der Umbau zu klimaresilienten Städten. Von zunehmender Bedeutung aber schwer umzusetzen ist die Kommunikation mit Stakeholdern aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft. Eine solche Zusammenarbeit erfordert ein dialogbasiertes Handeln ausgehend von einer Position der eigenen Stärke z.B. mit Hilfe neuer Methoden wie dem Connective Design.11
Je nach Problemtyp kann die Erprobung von möglichen Ansätzen in Pilotlösungen, Prototypen oder minimal funktionsfähigen Produkten erfolgen.
Für das Testen der „Piloten“ ist eine Vielzahl von Methoden entstanden. Wichtig ist dabei auch, Umsetzungsschwierigkeiten zu erkennen und die Lösungsansätze in schnellen Lernschleifen anzupassen.
Die Umsetzung eines erfolgversprechenden Lösungsansatzes beginnt mit einer Planung der Skalierung und der weiteren Finanzierung. Bei der Formulierung von Zielen und Schlüsselergebnissen hat sich die Objectives and Key Results (OKR-) Methode bewährt.
Die abschließende Phase ist dann die Durchführung der Skalierung im Rahmen von Programmen und Projekten, eine Erfolgskontrolle und die regelmäßige Reflektion von Zwischenergebnissen.
Der Erfolg einer solchen Vorgehensweise hängt entscheidend von den Fähigkeiten und dem Mindset der beteiligten Teams und Führungskräfte ab.
Implikationen für die Management Education
Wichtige Implikationen für die Management Education lassen sich in drei Punkten zusammenfassen:12
- Ein Lernen anhand von komplexen aktuellen Problemen
- die interdisziplinäre Bearbeitung dieser Probleme in Projekten und
- der Einsatz von Lehrkräften mit Führungserfahrung.
Die Realität an den meisten Hochschulen ist davon weit entfernt. Hieraus ergeben sich aber vielfältige Möglichkeiten für innovative Bildungsanbieter. In unserer praktischen Arbeit setzen wir die DSCMP-Methode sowohl in Bachelor- und Master-Studiengängen als auch direkt in Unternehmen im Rahmen einer Customized Management Education ein. Dabei liegt ein Forschungsschwerpunkt in der Unterstützung eines problemorientierten Projektlernens durch Künstliche Intelligenz (KI). Der Nutzen für alle Lernenden besteht in der Verbesserung ihrer Chancen in einem Arbeitsmarkt, der sich gegenwärtig dramatisch verändert.
Künstliche Intelligenz (KI) verändert die Arbeitswelt
So prognostiziert Dario Amodei, der Gründer des KI-Start-ups Anthropic Ende Mai 2025, KI würde in den nächsten Jahren die Hälfte aller Bürojobs auf Einstiegslevel vernichten. Besonders betroffen ist die klassische Sachbearbeitung, die durch repetitive, analytische und administrative Aufgaben geprägt ist. Umso wichtiger ist es, dass Arbeitssuchende KI-Fähigkeiten nachweisen können. Die Erfahrung mit dem Thema Digitalisierung in der Vergangenheit zeigt, dass sich Tätigkeiten eher verändern als komplett wegzufallen. Daher kommt es zunächst darauf an zu lernen, mit Hilfe von KI zeitaufwendige Arbeiten produktiver zu erledigen und so mehr Zeit für die Lösung komplexer Probleme zu gewinnen. Bei der Aus- und Weiterbildung auf dem Weg zur Führungskraft ist dann der Einsatz von KI zur Bewältigung von Komplexität erfolgsentscheidend.13
Fazit
- Strategische Neuausrichtungen erfordern eine geeignete theoretische Grundlage, innovative Vorgehensmethoden und ein problemorientiertes Lernen
- Eine solche Grundlage ist die Managementtheorie komplexer evolutionärer Systeme
- Eine kreative Phase bei der Vorgehensmethode Designing Solutions for Complex Management Problems (DSCMP) ist das verbindende Gestalten
- Bei der Anwendung dieser Grundlagen und Vorgehensweisen im Rahmen eines problemorientierten Lernens spielen innovative Bildungsanbieter eine wichtige Rolle.
Literatur
[1] Servatius, H.G., Dreifache strategische Neuausrichtung. In: Competivation Blog, 07.06.2024
[2] Beer, S., Cybernetics and Management, English Universities Press 1959
[3] Parsons, T., The Social System, The Free Press 1951
[4] Ulrich, H., Die Unternehmung als produktives soziales System, Haupt 1968
[5] von Hayek, F.A., The Constitution of Liberty, University of Chicago Press 1960
[6] Kirsch, W., Seidel, D., van Aaken, D., Evolutionäre Organisationslehre, Schäffer-Poeschel 2010
[7] Habermas, J., Theorie des kommunikativen Handelns (2 Bände), Suhrkamp 1984
[8] Gell-Mann, M., Das Quark und der Jaguar – Vom Einfachen zum Komplexen, Piper 1994, S.53
[9] Stacey, R.D., Complex Responsive Processes in Organizations – Learning and Knowledge Creation, Routledge 2001
[10] Servatius, H.G., Von erfolgreichen Digital-Unternehmen lernen. In: Competivation Blog, 12.07.2024
[11] Servatius, H.G., Gestaltung von innovativen Stakeholder-Ökosystemen. In: Competivation Blog, 10.01.2023
[12] Servatius, H.G., KI und die Zukunft der Management Education. In: Competivation Blog, 09.04.2025
[13] Knees, L., Maier-Brost, H., Wie sicher ist meine Arbeit vor KI? In: Handelsblatt, 4./5./6. Juli 2025, S.54-55