
Prozessorientierte KI zur Produktivitätssteigerung
Ein wichtiges Anwendungsfeld für Technologien der Künstlichen Intelligenz (KI) ist die Produktivitätssteigerung von Prozessen und Aufgaben. Diese bislang letzte Phase des Prozessmanagements hat eine längere Entwicklungsgeschichte, die weniger im Mittelpunkt des Interesses stand als die Gestaltung der Aufbauorganisation von Unternehmen. Inzwischen ist der Einsatz von prozessorientierter KI zu einer neuen Quelle von Wettbewerbsvorteilen geworden. Daher ist es spannend, sich näher mit der Entwicklung des Prozessmanagements zu beschäftigen.
In dieser Fortsetzung unserer Blogpost-Reihe zur Künstlichen Intelligenz beschäftige ich mich mit dem Beitrag der KI zu einer Produktivitätssteigerung von Prozessen, die Ressourcen für Innovationen freisetzt.
Entwicklung des Prozessmanagements
Die Entwicklung des Prozessmanagements ist in drei Phasen verlaufen. Diese Phasen sind durch ein Zusammenwirken der Ingenieurwissenschaft, Managementwissenschaft und Informationstechnik geprägt. Der Fokus der ersten Phase lag auf dem Produktionsmanagement. In der zweiten Phase verlagerte sich der Schwerpunkt auf das Management von Geschäftsprozessen. In der gegenwärtigen dritten Phase rückt das Management von prozessorientierter Künstlicher Intelligenz (KI) in den Mittelpunkt des Interesses.
In der ingenieurwissenschaftlich geprägten ersten Phase ging es vor allem um die Zerlegung, Gestaltung und Automatisierung von Produktionsprozessen. Bedeutende Rationalisierungsimpulse gingen Anfang des 20. Jahrhunderts von dem Ingenieur und Berater Frederick Winslow Taylor aus, der eine Zerlegung von Arbeitsabläufen in kleine Schritte propagierte. In der Produktionstechnik entstand eine Spezialisierung auf verschiedene Fachgebiete wie Fertigungstechnik sowie Prozess- und Verfahrenstechnik. Die Automatisierung von Produktionsprozessen erfolgte mit Hilfe der Mess- und Regeltechnik und der Robotik.
Die deutsche Industrie ist in diesem Bereich der Wirtschaft sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite seit vielen Jahrzehnten weltweit führend.
IT-unterstützte Prozessoptimierung und -innovation
Die entscheidende Grundlage für eine zweite Phase des Prozessmanagements legte der deutsche Wirtschaftsinformatik-Professor und Unternehmensgründer August-Wilhelm Scheer. 1984 forderte Scheer in seinem Buch EDV-orientierte Betriebswirtschaftslehre, eine IT-unterstützte Prozessorganisation zu gestalten. Diesen Grundgedanken entwickelte er gemeinsam mit SAP, dem heute weltweit führenden Anbieter von Enterprise Resource Planning (ERP-) Systemen, weiter. In seinem 1991 erschienenen Buch Architektur integrierter Informationssysteme ARIS lieferte er ein Rahmenkonzept für die Beschreibung von Geschäftsprozessen.1
Die Optimierung und Innovation von Geschäftsprozessen wird durch Referenzmodelle unterstützt. Anfang der 1990er Jahre entwickelte August Wilhelm Scheer gemeinsam mit SAP das Modell der Ereignisgesteuerten Prozesskette (EPK), um auch komplexere Prozesse zu beschreiben. Dieses Modell bildete die Grundlage für das R/3-System von SAP. Eine EPK besteht aus den vier Elementen2
- Ereignis: Wann soll etwas gemacht werden?
- Funktion: Was soll gemacht werden?
- Organisationseinheit: Wer soll etwas machen?
- und Informationsobjekte: Welche Informationen sind nötig?
Ein Enterprise Resource Planning (ERP-) System, ist eine modular aufgebaute Software, bei der betriebswirtschaftliche Anwendungen (Applikationen) durch eine gemeinsame Datenbasis verbunden sind. Typische Applikationen sind Finanzen und Controlling oder Einkauf und Logistik. Weitere Merkmale von ERP-Systemen sind z.B. die Prozessintegration, ein einheitliches Entwicklungskonzept, eine Client-/ Server-Architektur sowie die Trennung von organisatorischer Sicht und technischer Sicht (Mandantenfähigkeit). Die Einführung von ERP-Systemen erfolgt schrittweise funktionsorientiert bzw. prozessorientiert (sukzessiv) oder stichtagsbezogen (Big Bang).3
In den 1990er Jahren war das Reengineering der Geschäftsprozesse eines der wichtigsten Managementthemen. Ausgelöst hat den Hype das 1993 erschienene Buch Reengineering the Corporation von Michael Hammer und James Champy.4 Das ebenfalls 1993 publizierte Buch von Thomas Davenport beschäftigt sich mit Informationstechnologien als Treiber von Prozessinnovationen.5 Mein 1994 erschienenes Buch Reengineering-Programme umsetzen war die erste deutschsprachige Buchpublikation zu dem Thema.6
Der Untertitel „Von erstarrten Strukturen zu fließenden Prozessen“ knüpft an meine 1991 erschienene Habilitation an, in der ich den schrittweisen Paradigmenwechsel im strategischen Management von mechanistisch zu komplexitätsbewältigend behandele.7 Dieser Wechsel des Paradigmas sollte sich in einem evolutionären Wandel von Organisationen fortsetzen. Ein Beispiel ist eine Forschung und Produktion, die sich stärker am Kundenbedarf orientiert.
Seit 2015 forciert SAP die Migration seiner Kunden auf das ERP-System SAP S/4 HANA. Es stehen die folgenden Versionen zur Auswahl
- On-Premise: Kunde erwirbt Softwarelizenz
- Cloud: Installation in der Public Cloud von SAP und
- Hybrid: Installation in einer Private Cloud.
Trotz Programmen wie Rise with SAP haben viele Bestandskunden noch keine Lizenzen für S/4 HANA gekauft. Eine Verbesserung soll die Akquisition des Bonner Start-ups LeanIX bringen. Dessen Plattform verschafft Unternehmen einen Überblick über ihre IT-Systeme (,,Google Map für die IT“). Das Nutzenversprechen ist eine Reduktion der Komplexität mehrerer ERP-Systeme mit unterschiedlicher individueller Konfiguration. So möchte SAP einen Wechsel zu S/4 HANA einfacher gestalten und seinen Kunden den Weg in die Cloud erleichtern. 2023 hat LeanIX einen KI-Assistenten eingeführt, der auf dem Sprachmodell GPT von OpenAI basiert.8
Eine erste Definition von Big Data stammt von Doug Laney aus dem Jahr 2001 (,,Datenmengen, die größer sind, als man es gewöhnt ist“). Seit etwa 2010 ersetzt der Begriff andere Bezeichnungen, wie z.B. Business Intelligence and Analytics. Wichtig sind dabei die fünf Vs: Volume, Velocity, Variety, Value and Validity. Die Verarbeitung von großen Datenmengen kann durch Cloud Computing erfolgen. Weltmarktführer in diesem Geschäftsfeld der ,,Hyperscaler“ ist Amazon Web Services (AWS) gefolgt von Microsoft (Azure). Zur Nutzung setzen viele Unternehmen das Geschäftsmodellmuster Pay-per-use ein.
Produktivitätssteigerung mit Robotic Process Automation
Neue Möglichkeiten zur Produktivitätssteigerung ergeben sich durch die auf dem Process Mining basierenden KI-Technologien. Das Process Mining ist in der Schnittmenge von Geschäftsprozess-Management und Big Data entstanden. Es analysiert Daten, die reale Prozesse erzeugen, analysiert diese, vergleicht Soll- mit Ist-Daten und beseitigt Mängel. Hieraus resultieren innovative Ansätze zur Produktivitätssteigerung mit Hilfe von Technologien der Künstlichen Intelligenz (KI). Eine solche KI-Technologie ist die Robotic Process Automation (RPA). RPA-Programme sind regelbasierte Softwareroboter (,,Bots“), die Routineaufgeben übernehmen können, z.B. die Reisekostenabrechnung.9 Das wertvollste deutsche Start-up, Celonis aus München, ist in diesem Feld tätig.
Ähnlich wie Celonis strebt nun auch SAP einen nächsten Entwicklungsschritt an. Im Rahmen seiner AI-first-Strategie hat SAP eine neue Business Data Cloud vorgestellt, die die Aufbereitung und Analyse von Daten erleichtern soll. Nach einer Studie des Verbands Bitkom schöpfen weniger als 40 Prozent der Unternehmen in Deutschland das Potenzial der ihnen zur Verfügung stehenden Daten aus. Die neue KI-Plattform ist eine Art Übersetzer, der die Daten in eine einheitliche Sprache überführen soll. Dabei arbeitet SAP mit dem US-Unternehmen Databricks zusammen. Die Datenbasis bildet die Grundlage für eine Weiterentwicklung des SAP-KI-Assistenten Joule zu einer Art „Superagent“ für eine Vielzahl von Aufgaben. Damit möchte SAP seine Produkte wieder zu einem „einheitlichen System“ in der Cloud zusammenführen. Das Nutzenversprechen ist eine Künstliche Intelligenz, die die ganze Organisation der SAP-Kunden produktiver macht.10
Zusammenarbeit mit KI-Assistenten
Die Data-Intelligence-Plattform von Databricks basiert auf einer Lakehouse-Architektur, die Data Lakes und Warehouses kombiniert. Ein Lakehouse basiert auf Open Source und offenen Standards. Es vereinfacht den Datenbestand, indem es Silos eliminiert.
Außerdem entwickeln Start-ups KI-Lösungen für spezifische Geschäftsprozesse wie das Qualitätsmanagement. Das Münchner Start-up Datagon AI hat eine KI entwickelt, die anstrebt, Produktionsdaten in ein individuelles und optimiertes Qualitätsmanagement umzuwandeln. Die KI lernt, welche Datenstruktur auf eine fehlerfreie Produktion z.B. von Fahrzeugen hindeutet und erkennt Abweichungen von dieser Struktur. So sollen 15 bis 20 Prozent mehr Fehler erkannt werden als mit standardisierten Testverfahren. Grundlage ist das Datenmuster eines fehlerfreien Produktionsprozesses. Datagon bezeichnet seine KI-Lösung als Game Changer für das Qualitätsmanagement.11
Zunehmende Bedeutung bei der Produktivitätssteigerung haben auch KI-Assistenten für Routineaufgaben. Ein solcher KI-Assistent unterstützt z.B. den Vertrieb bei Würth. Das Motto von Reinhold Würth ist: „Sie sind nicht beim Würth angestellt, sondern bei Ihren Kunden“. Würth hat die Schraubenhandlung seines Vaters zu einem Weltkonzern für Montage- und Befestigungstechnik mit mehr als 20 Milliarden Euro Umsatz ausgebaut. Der bei Würth entwickelte KI-Assistent Pico hilft Vertriebsmitarbeitenden bei12
- der Routenplanung für Kundentermine
- administrativen Aufgaben über eine Sprachsteuerung im Auto, z.B. beim
Schreiben von Rechnungen - der Beantwortung komplexer Fragen zur Vorbereitung auf Kundentermine.
Die Grundlage bildet eine systematische Datenerfassung der Produkte und Kunden des Unternehmens. Das jährliche IT-Budget liegt derzeit bei einer halben Milliarde Euro. Etwa ein Zehntel davon fließt in neue KI-Anwendungen.
Während große Organisationen ihre eigenen KI-Assistenten entwickeln, brauchen kleinere Unternehmen einen Partner. Die Sparkassen planen, alle Arbeitsplätze mit einem persönlichen KI-Assistenten auszustatten. Diesen Chatbot S-KI-Pilot hat der Sparkassen-IT-Dienstleister Finanz Informatik (FI) entwickelt. Die KI-Anwendungen laufen in FI-Rechenzentren. Die Entwicklung des Chatbots ist zu 80 Prozent auf der Grundlage des frei zugänglichen GPT-Modells des französischen Unternehmens Mistral AI erfolgt. Das Training läuft auf Basis des spezifischen internen Sparkassen-Wissens, das im Internet und in Prozessdokumentationen verfügbar ist. Auf diese Weise möchte die Gruppe ihre KI-Souveränität erhalten und dem zunehmenden Fachkräftemangel entgegenwirken. Ein wichtiges Ziel sind effizientere und schnellere Prozesse.13 Diese Möglichkeiten haben kleinere Unternehmen in der Regel nicht. Sie benötigen daher einen vertrauenswürdigen Dienstleister möglichst aus Europa, um mit einer wissensspezifischen KI Wettbewerbsvorteile zu erreichen.
Handlungsfelder beim organisatorischen Wandel
Eine Produktivitätssteigerung mit prozessorientierter KI ist nicht die einzige Aufgabe beim organisatorischen Wandel. Hinzu kommen die Handlungsfelder Aufbauorganisation, Projektmanagement und Personalentwicklung. In der Verbindung dieser Handlungsfelder lieht gegenwärtig eine große Herausforderung

Neben traditionellen Ansätzen zum Abbau von Hierarchien erproben Unternehmen wie Bayer des von Gary Hamel entwickelten Humanocracy-Ansatz zur Gestaltung einer schlankeren Aufbauorganisation.14 Die Umsetzung eines agilen Projektmanagements ist vor allem in etablierten Unternehmen mit einer Änderung des Mindsets verbunden. Darüber hinaus erfordert beim Thema KI ein Up- und Reskilling einer großen Anzahl von Mitarbeitenden neue Wege in der Personalentwicklung. Für eine Verbindung dieser Handlungsfelder gibt es bislang noch keine allgemeine theoretische Grundlage.
Fazit
- Das interdisziplinäre Fachgebiet des Prozessmanagements hat sich in drei Phasen entwickelt.
- In der gegenwärtig letzten Phase entstehen neue Möglichkeiten zur Produktivitätssteigerung mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz.
- Wichtige Impulse gehen dabei von der Robotic Process Automation und von KI-Assistenten aus.
- Eine gemeinsam von SAP und Databricks entwickelte neue Plattform basiert auf der Lakehouse-Architektur.
Literatur
[1] Scheer, A.W., ARIS – Vom Geschäftsprozess zum Anwendungssystem, 4. Aufl., Berlin 2002
[2] Gadatsch, A., Grundkurs Geschäftsprozess-Management, 10. Aufl., Wiesbaden 2023, S. 126ff.
[3] Gadatsch, a.a.O., S.202ff.
[4] Hammer, M., Champy, J., Reengineering the Corporation – A Manifesto for Business Revolution, New York 1993
[5] Davenport, T.H., Process Innovation – Reengineering Work through Innovation Technology, Boston 1993
[6] Servatius, H.G., Reengineering-Programme umsetzen – Von erstarrten Strukturen zu fließenden Prozessen, Stuttgart 1994
[7] Servatius, H.G., Vom strategischen Management zur evolutionären Führung – Auf dem Wege zu einem ganzheitlichen Denken und Handeln, Stuttgart 1991
[8] Alvares de Souza Soares, P., et al., SAP kauft das Bonner Software-Start-up LeanIX. In: Handelsblatt, 8./9./10. September 2023, S. 23
[9] Gadatsch, a.a.O., S. 289ff.
[10] Kerkmann, C., SAP stellt „Superagenten“ vor. In: Handelsblatt, 14./15./16. Februar 2025, S. 30-31
[11] Knees, L., Bis zu 20 Prozent weniger Fehler. In: Handelsblatt, 21./22./23.Februar 2025, S. 34
[12] Buchenau, M., Ein Beifahrer namens Pico. In: Handelsblatt, 27./28./29. Dezember 2024, S.32
[13] Atzler, E., Kröner, A., KI-Assistent für 190.000 Mitarbeiter. In: Handelsblatt, 9. Januar 2025, S.28-29
[14] Hamel, G., Zanini, M., Humanocracy – Creating Organizations as Amazing as the People Inside Them, Boston 2020