Auf dem Weg zu einem neuen wirtschaftspolitischen Narrativ
Angesichts einer Vielzahl von Herausforderungen suchen die Wähler und Wählerinnen nach einer neuen sinnstiftenden Erzählung der Wirtschaftspolitik. Zwischen den Parteien gibt es einen zunehmenden Wettbewerb um ein erfolgreiches Narrativ. Ein wichtiges Thema bei der gestrigen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen war: Klimaschutz und Industrie in Einklang bringen.
In unserem Blogpost stellen wir ein mögliches Narrativ zur Diskussion
Von einzelnen Maßnahmen zu einer integrierenden Erzählung
Mit ihrem 2020 erschienenen Buch Neustaat haben CDU/CSU-Politiker und Experten einen beeindruckenden Maßnahmenkatalog für eine Neuorientierung der Wirtschaftspolitik vorgelegt.1 Die 103 Vorschläge bedürfen jedoch der Ergänzung um eine integrierende Erzählung als Klammerfunktion für die einzelnen Maßnahmen.
Unter einem solchen neuen Narrativ der Wirtschaftspolitik verstehen wir eine sinnstiftende Erzählung, die Werte und Emotionen transportiert.2 Das Narrativ ist ein Deutungsangebot der Politik zur Bewältigung von Herausforderungen und Krisen.
Aufgrund der Herausforderungen der Digitalisierung und des Klimawandels sowie der durch die Corona-Pandemie und den Krieg in der Ukraine ausgelösten Krisen arbeiten die politischen Parteien in Europa an einem neuen Narrativ für die Wirtschaftspolitik.
Zwei Ebenen des neuen Narrativs
Gegenwärtig zeichnet sich die Entstehung eines solchen neuen Narrativs der Wirtschaftspolitik mit zwei komplementären Ebenen ab. Auf der ersten Ebene steht eine konnektive Wirtschaftspolitik, die verschiedene Politikfelder, wie die Innovations-, Nachhaltigkeits-, Digital- und Geopolitik verbindet. Das damit einhergehende Nutzenversprechen für den Wähler sind Problemlösungen, die traditionelle Ressortgrenzen überwinden.3
Auf der zweiten Ebene erfolgen eine gemeinsame Gestaltung von Innovationsfeldern und der Abbau von Innovationsbarrieren. Dies erfordert eine bessere Zusammenarbeit von Stakeholdern aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. Das Weltwirtschaftsforum hat für dieses gemeinsame Design von Stakeholder-Systemen den Begriff Governance 4.0 geprägt.4
Das Narrativ einer verbindenden Wirtschaftspolitik steht in Konkurrenz zu anderen Erzählungen, wie z.B. der von einer Mission Economy. Dieses Konzept der Wirtschaftswissenschaftlerin Mariana Mazzuccato orientiert sich am Erfolg des US-amerikanischen Mondflugprogramms.5 Im Mittelpunkt steht die Vorstellung von einer aktiveren Rolle des Staates im Rahmen der Veränderung des marktwirtschaftlichen Systems. Wie genau die neue Zusammenarbeit von Politik und Wirtschaft in der Mission Economy aussehen soll, bleibt jedoch unklar.
Im Folgenden skizzieren wir die beiden Ebenen einer konnektiven Wirtschaftspolitik, die einen Gegenentwurf zur Mission Economy darstellt.
Eine Wirtschaftspolitik, die verschiedene Politikfelder verbindet
Ein Innovationsfeld, bei dem die Notwendigkeit einer verbindenden Wirtschaftspolitik deutlich wird, ist die Künstliche Intelligenz. KI wird die Spielregeln des Wettbewerbs von Unternehmen und Staaten weiter verändern.6 In Deutschland bedarf die 2020 fortgeschriebene KI-Strategie der Bundesregierung einer Überarbeitung und Übersetzung in wirksamere Programme.7 Hierfür sind geeignete Formate zur Einbeziehung der Stakeholder zu finden.
Aufgabe einer verbindenden Wirtschaftspolitik wäre es, die Rahmenbedingungen für einen Aufholprozess Europas und seiner Regionen zu verbessern. Dies erfordert eine KI-Strategie, die verschiedene Politikfelder orchestriert. Aufgabe der Bildungs- und Forschungspolitik wäre es, sowohl die Aus- und Weiterbildung zu erneuern als auch die Forschungsförderung gezielter auf den Technologietransfer auszurichten. Eine Digitalpolitik müsste an der öffentlichen Infrastruktur und Verwaltung ansetzen. In den Bereich der Nachhaltigkeitspolitik fällt die Aufgabe, KI-Anwendungen zur Bewältigung des Klimawandels voranzutreiben und den von KI ausgehenden Abbau von Arbeitsplätzen sozialverträglich zu gestalten. Dies alles erfolgt vor dem Hintergrund veränderter geopolitischer Bedingungen, bei denen Europa vor der Herausforderung steht, seine technologische Souveränität zurückzugewinnen und eigene Wertvorstellungen zu verteidigen.
Eine solche Verbindung von Politikfeldern erleichtert die Zusammenarbeit von Stakeholdern aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft in Innovationsfeldern wie der Künstlichen Intelligenz.
Zusammenarbeit von Stakeholdern in Innovationsfeldern
In Deutschland weitgehend unbemerkt ist Ende der 1950er Jahre an der Stanford University im Silicon Valley die agile Innovationsmethode des Design Thinking entstanden.8 Der Nutzen dieser Methode liegt unter anderem in einer Verbesserung der interdisziplinaren Zusammenarbeit ausgehend von einem gemeinsamen Prozessverständnis. In erfolgreichen Digitalunternehmen und Start-ups ist diese Methode seit langem Standard. Manager etablierter Unternehmen, die Design Thinking einführen wollen, sehen sich jedoch häufig in der Rolle von Missionaren, die auf das traditionelle Mindset ihrer Führungskraft treffen. Die Erfahrungen beim Design Thinking liefern reichlich Material für ein gemeinsames Narrativ von Stakeholdern aus verschiedenen Sektoren.
Ein ähnliches Dilemma wie beim Innovationsmanagement besteht nämlich bei der Zusammenarbeit dieser Bezugsgruppen aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft, die gemeinsam Innovationsfelder vorantreiben und Innovationsbarrieren abbauen wollen. Es fehlt an einer gemeinsamen Vorgehensmethode und – vielleicht noch wichtiger – an einer verbindenden Grundhaltung als Voraussetzung für erfolgreiche Kooperationen.
Zur Überwindung dieser Defizite müssten sich die Akteure aufeinander zubewegen. Wichtig wäre es auch, bei Programmen gemeinsame Ziele und Ergebnisse zu formulieren.9 In innovativen Unternehmen hat sich hierbei die Objectives and Key Results (OKR-) Methode bewährt. Die Schaffung einer neuen Koordinationseinheit wie der Deutschen Agentur für Transfer und Innovation (DATI) mag ein weiterer Schritt in diese Richtung sein, wenn es gelingt Partikularinteressen zu überwinden.10 Hierbei könnte ein gemeinsames Narrativ eine wichtige Rolle spielen.
Ein entstehendes Narrativ als Lernprozess
Die verantwortlichen Akteure sollten das entstehende neue Narrativ einer verbindenden Wirtschaftspolitik als Lernprozess begreifen. Interessante Anregungen können dabei von atypischen Erfolgsgeschichten wie der des Impfstoffpioniers BioNTech kommen.11 Darüber hinaus wäre es notwendig, dieses Narrativ auszugestalten und in gemeinsamen Projekten zu konkretisieren. Diese Initiativen können auf regionaler, nationaler oder EU-Ebene starten. Wichtig wäre, aus den gewonnenen Erfahrungen die richtigen Schlussfolgerungen abzuleiten. Ein solcher Prozess hat eher evolutionären als transformativen Charakter, auch wenn das Ergebnis ein grundlegender Wandel sein kann.12 In unserer praktischen Arbeit unterstützen wir Akteure auf diesem Weg und freuen uns auf Ihr Feedback.
Fazit
- Aktuelle Herausforderungen und Krisen haben die Suche nach einem neuen wirtschaftspolitischen Narrativ verstärkt
- Ein Gegenentwurf zum Konzept der Mission Economy ist die konnektive Wirtschaftspolitik
- Im Mittelpunkt steht dabei eine Verbesserung der Verbindungen zwischen Politikfeldern und Stakeholdern
- Ein Beispiel für die Notwendigkeit einer solchen sinnstiftenden Erzählung liefert das Innovationsfeld Künstliche Intelligenz
Literatur
[1] Heilmann, T., Schön, N. (Hrsg.), Neustaat – Politik und Staat müssen sich ändern, 2. Aufl., München 2020
[2] Jarzebski, S.: Erzählte Politik – Politische Narrative im Bundestagswahlkampf, Wiesbaden 2020
[3] Delhaes, D., Die Bundesregierung rangelt bei der Digitalpolitik weiter um Kompetenzen. In: Handelsblatt, 25.03.2022
[4] Schwab, K., Die Vision einer Governance 4.0, In: Handelsblatt, 21./22./23. Januar 2022, S. 64
[5] Mazzucato, M., Mission Economy – A Moonshot Guide to Changing Capitalism, Dublin 2021
[6] Kaufmann, T., Servatius, H.G., Das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz als Game Changer – Wege zu einem Management 4.0 und einer digitalen Architektur, Wiesbaden 2020
[7] Die Bundesregierung (Hrsg.), Nationale Strategie für Künstliche Intelligenz – AI Made in Germany, Fortschreibung 2020
[8] Arnold, J.E., Creative Engineering – Promoting Innovation by Thinking Differently, Stanford 1959
[9] Doerr, J., Speed & Scale – An Action Plan for Solving Our Climate Crisis Now, New York 2021
[10] DIHK (Hrsg.), DIHK-Impulspapier zur Deutschen Agentur für Transfer und Innovation (DATI), 10.03.2022
[11] Miller, J., Sahin, A., Türeci, Ö., Projekt Lightspeed – Der Weg zum BioNTech-Impfstoff und zu einer Medizin von morgen, Hamburg 2021, S. 177 ff.
[12] Servatius, H.G., Warum der digitale Wandel evolutionär verläuft. In: Competivation Blog, 09.11.2021