Strategische Vorausschau mit einem Game-Changer-Radar | Competivation

Am Anfang des Innovationsstrategie-Prozess steht die Vorausschau (Foresight) auf mögliche zukünftige Entwicklungen. Ein Game-Changer-Radar hilft beim Erkennen radikaler Innovationschancen.

 

In diesem Blogpost stellen wir einen neuen Ansatz vor, mit dem Sie die strategische Vorausschau in Ihrer Organisation verbessern können.

 

Beschleunigung an strategischen Wendepunkten

Die sogenannte Mobilitätswende hat sich lange abgezeichnet, nimmt aber gegenwärtig an Fahrt auf. Dies ist kein ungewöhnlicher Vorgang. In der Regel gibt es frühzeitig schwache Signale, mit denen sich strategische Wendepunkte (Inflection Points) ankündigen. Diese Signale werden häufig zunächst langsam stärker und erreichen dann eine Beschleunigungsphase, in der die Entwicklung in eine radikale Richtung geht oder sich wieder abschwächt.1 Strategische Wendepunkte eröffnen neue unternehmerische Möglichkeiten und stehen oft am Begin radikaler Innovationen. Die auf diese Weise entstehenden neuen Megatrends sind häufig zunächst nicht offensichtlich.2 Was die Führung daher benötigt, um diese Chancen zu nutzen, ist eine verbesserte Corporate Foresight als erste Phase des Innovationsstrategie-Prozess.3

 

Weiterentwicklung der traditionellen Foresight-Prozesse

Unter Corporate Foresight versteht man die Aktivitäten eines Unternehmens zur Vorausschau und Vorbereitung auf Veränderungen des Umfelds. Das Ziel ist die Entwicklung von möglichen Zukunftsvorstellungen. Dabei kommen Konzepte der Trend- und Zukunftsforschung, wie die Delphi-Methode und die Szenario-Analyse zum Einsatz, die schon vor Jahrzehnten entstanden sind.

Ein aktuelles Thema ist die Gestaltung der IT-Architektur von Unternehmen. Hier zeichnet sich seit langem eine Entwicklung von Insellösungen über Enterprise Architecture Tools zu neuen IoT- und KI-basierten Plattformkonzepten ab.4 Die Aufgabe von Corporate Foresight ist es, die für das eigene Unternehmen relevanten Trends herauszuarbeiten. Ein wichtiger Aspekt ist dabei die Beobachtung der IT-Anbieter. Neben etablierten Akteuren spielen auch Start-ups wie LeanIX, Bizzdesign ,Avolution und die BOC Group eine Rolle.5

Foresight ist ein durch die Führung und das Innovationsklima geprägter kreativer Prozess, der in fünf Phasen ablaufen kann. Diese sind auf eine Beantwortung der folgenden Fragen gerichtet:6

  1. Die Suchrichtung ableiten: Was ist für das Unternehmen der relevante Suchraum?
  2. Implizites und explizites Wissen generieren: Welche neuen Entwicklungen und Trends gibt es?
  3. Interpretieren: Welche Bedeutung haben diese Trends für das Unternehmen?
  4. Innovationsfelder identifizieren: Welche relevanten Innovationsfelder entstehen gegenwärtig?
  5. Handeln: Welche Schlussfolgerungen leiten Entscheider aus den Erkenntnissen ab?

Ein solcher Foresight-Prozess ist in der Regel in Strategie- und Innovationsprozesse integriert. Man spricht daher auch von Strategy and Innovation Foresight. Die Bearbeitung der Phasen erfolgt in einem iterativen Lernprozess durch agile Foresight-Teams, die interdisziplinär zusammenarbeiten.

Lernprozess Innovationsstrategie

Die meisten Foresight-Methoden sind stark analyseorientiert. Daher vernachlässigen viele Unternehmen die Phase der Interpretation. Während die Analyse auf einen Austausch von Informationen und die Lösung konkreter Probleme gerichtet ist, kommt es bei der Interpretation darauf an, dass die Teilnehmer in einem offenen Prozess neue Bedeutungen entdecken.7 Dies ist insbesondere im Hinblick auf radikale Innovationen wichtig, fällt aber häufig dem Druck, schnelle Ergebnisse zu erzielen, zum Opfer.

Interessant ist nun, dass sich die Foresight-Forschung in der Vergangenheit wenig mit dem Thema radikale Innovation beschäftigt hat und auch in der Foresight-Praxis meist nicht zwischen inkrementellen und radikalen Innovationen unterschieden wird.8 Eine Weiterentwicklung der traditionellen Foresight-Prozesse sollte daher die Besonderheiten von radikalen Innovationen stärker berücksichtigen. Ein Ansatz hierzu ist der von uns entwickelte Game-Changer-Radar.

 

Game-Changer-Radar am Beispiel von individueller Mobilität im Stadtverkehr

Der Grundgedanke des Game-Changer-Radars ist, einen Suchraum in Suchfelder zu gliedern. Für jedes dieser Suchfelder analysiert das Foresight-Team relevante Entwicklungen und interpretiert, ob diese Entwicklungen einen radikalen Verlauf haben könnten. Eine Aufgabe, die viel strategische Intuition erfordert, ist es dann, die radikalen Entwicklungen zu verbinden und hieraus Zukunftsentwürfe mit Game-Changer-Potenzial abzuleiten.

Dieses Vorgehen wollen wir am Beispiel des Suchraums „Individuelle Mobilität im Stadtverkehr“ erläutern. Relevante Suchfelder für radikale Entwicklungen sind:

  1. Die Regulierung
  2. die Corona-Krise
  3. neue Transportmittel
  4. neue Antriebstechnologien
  5. Mobility as a Service
  6. das autonome Fahren
  7. eine seamless („nahtlose“) Mobility und
  8. das Kundenerlebnis.

Im Folgenden skizzieren wir radikale Entwicklungen, die sich auf einen strategischen Wendepunkt zubewegen und möglicherweise beschleunigen.

Lernprozess Innovationsstrategie

Angesichts der Umweltbelastungen in Städten gibt es im Suchfeld Regulierung Entwicklungen zur Begrenzung der individuellen Mobilität z.B. durch Fahrverbote für ältere Diesel-Fahrzeuge und Umweltspuren, die zu langen Staus führen. Diese Entwicklungen könnten sich weiter verstärken. Der Ausgang ist weitgehend offen.

Eine gegenläufige Tendenz geht von der Corona-Krise aus. Der öffentliche Personennahverkehr ist reduziert und Fahrgäste fürchten die Infektionsrisiken. Möglich erscheint daher eine zumindest befristete Rückkehr zur individuellen Mobilität.

Im Suchfeld neue Transportmittel sind mit E-Bikes und E-Scootern innovative Kategorien entstanden, die sich steigender Beliebtheit erfreuen. Damit einher geht eine wachsende Kritik an der Sicherheit und Umweltverträglichkeit vor allem von E-Scootern. Dies begünstigt möglicherweise den Durchbruch von anderen Kleinfahrzeugen, die mit geringeren Risiken für die Verkehrsteilnehmer verbunden sind.

Das Suchfeld mit dem größten Veränderungsdruck für die Automobilindustrie waren in den letzten Jahren neue Antriebstechnologien. Nahezu alle Hersteller sind inzwischen dabei, ihr Angebot an Fahrzeugen mit Elektroantrieb zu erweitern. Dabei werden der breiten Öffentlichkeit erst allmählich die Probleme der vorherrschenden Lithium-Ionen-Technologie bewusst. Dies könnte zumindest mittelfristig die Suche nach alternativen Batterietechnologien verstärken. Ein anderes Dauerproblem ist die Ladeinfrastruktur, die viele Nutzer ohne entsprechende Möglichkeiten im Wohnhaus oder am Arbeitsplatz abwarten lässt, bis sich bessere Konzepte durchsetzen.

Ein weiteres Suchfeld, in dem viele Automobilunternehmen radikale Veränderungen erwartet haben, ist Mobility as a Service. Während beim Car Sharing eine gewisse Ernüchterung eingetreten zu sein scheint, wartet das Ridepooling z.B. mit Sammeltaxidiensten noch auf seinen Durchbruch. Bei neuen Fahrdiensten nimmt der Druck auf Unternehmen wie Uber zu, sich in einen Regulierungsrahmen einzuordnen.

Deutlich realistischer geworden ist die Einschätzung beim autonomen Fahren. In Städten sind die Anforderungen an Künstliche Intelligenz (KI-) Technologien so hoch, dass der Weg zu wirtschaftlichen Lösungen wohl noch weit ist. Die gilt zumindest für das Level 5, bei dem es keinen Fahrer mehr gibt.

Ein Hoffnungsträger für viele Kommunen ist die Seamless („nahtlose“) Mobility. Hierunter versteht man Mobilitätsketten, bei denen die Teilnehmer unterschiedliche Transportmittel nutzen. Eine wichtige Rolle spielen dabei Mobility Hubs wie Bahnhöfe oder Umsteigestationen und Multimodalitäts-Apps, die die Nutzer bei ihrer Planung unterstützen.

Ein weiteres spannendes Suchfeld ist das angestrebte Kundenerlebnis mit seinen Implikationen für die Markengestaltung und Kundenbeziehungen. Spannend insofern, als bislang offen ist, in welche Richtung sich z.B. die Statussymbole verschiedener Kundengruppen verändern. Ebenfalls offen ist, ob das Influencer-Marketing im Mobilitätssektor einen ähnlichen Bedeutungszuwachs erlebt, wie in anderen Bereichen.

 

Strategische Intuition bei der Verbindung von radikalen Entwicklungen

Die gedankliche Verbindung möglicher radikaler Entwicklungen erfordert strategische Intuition, eine Fähigkeit, über die die meisten Game Changer in besonderer Weise verfügen. Der Ausgangspunkt ist zunächst einmal eine geistige Bereitschaft, die typisch für die aktive Suche nach Lösungsansätzen ist. Auf dieser Grundlage gelingt es dann, mit Hilfe von strategischer Intuition eigene und fremde Wissenselemente in einem kreativen Gedanken zu kombinieren. Strategische Intuition ist wichtig in neuartigen Situationen, benötigt aber meist Zeit, um sich zu entwickeln.9 Hierdurch unterscheidet sie sich von der Experten-Intuition z.B. eines Feuerwehrmanns, der in einer Gefahrensituation sehr schnell eine Lösung finden muss.

Personen mit strategischer Intuition haben ein ausgeprägtes assoziatives Denkvermögen. Dabei wirkt das Gehirn als intelligenter Speicher, der – häufig in einem entspannten Zustand – Wissenselemente aus unterschiedlichen Bereichen verbindet und kreative Synthesen schafft.

Lernprozess Innovationsstrategie

Der Game-Changer-Radar unterstützt also die strategische Analyse relevanter Entwicklungen in einem abgeleiteten Suchraum, die Interpretation ihrer Bedeutung im Hinblick auf radikale Wendepunkte und die Verbindung dieser Entwicklungen mit Hilfe von strategischer Intuition.

 

Anwendungsfall eines Connective Managements

In unserem letzten Blogpost habe ich mich mit der zunehmenden Bedeutung eines Connective Management beschäftigt, das verschiedene Bausteine von Systemen, Akteursgruppen oder Entwicklungen verbindet.10 Der Game-Changer-Radar ist eine konkrete Managementmethode, bei der eine solche Fähigkeit zur Konnektivität angewendet wird. Diese Fähigkeit ist in vielen etablierten Unternehmen nicht mehr so ausgeprägt vorhanden oder wird von der Führung nicht genügend gefördert. Dies ist einer der Gründe, warum sich diese Unternehmen bei radikalen Innovationen schwertun und im Wettbewerb mit Game Changern den Kürzeren ziehen.11 Daher kann der Game-Changer-Radar einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung von konnektiven Fähigkeiten leisten.

 

Fazit

  • Unternehmen, die in der Vergangenheit stärker auf inkrementelle Innovationen ausgerichtet waren, sollten ihre Foresight-Prozesse verbessern, um die Möglichkeit von radikalen Innovationen frühzeitig zu erkennen und zu nutzen
  • Ein methodischer Ansatz hierzu ist der Game-Changer-Radar, der hilft, radikale Entwicklungen z.B. bei innovativen Technologien und in neuen Anwendungsfeldern zu verbinden
  • Eine wichtige Rolle spielt dabei strategische Intuition, die eine besondere Ausprägung der Fähigkeit zur Konnektivität darstellt
  • Strategische Vorausschau mit einem Game-Changer-Radar ist also ein Beispiel dafür, wie Unternehmen ein Connective Management in der Praxis umsetzen können

 

Literatur

[1] McGrath, R.: Seeing Around Corners – How to Spot Inflection Points in Business Before They Happen, Boston 2019, S. 139 ff.

[2] Bhargava, R.: Non Obvious Megatrends – How to See What Others Miss to Predict the Future, 2020

[3] Servatius, H.G.: Analyse von Geschäftsmodell-Portfolios und Verbesserung des Risikomanagements. In: Competivation Blog, 19.11.2020

[4] Kaufmann, T., Servatius, H.G.: Das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz als Game Changer – Wege zu einem Management 4.0 und einer digitalen Architektur, Wiesbaden 2020, S. 101 ff.

[5] Heckel, M.: Ein Navi für die IT. In: Handelsblatt, 20. Januar 2021, S. 42-43

[6] Day, G.S., Schoemaker, P.J.H.: Peripheral Vision – Detecting the Weak Signals That Will Make or Break Your Company, Boston 2006

[7] Lester, R.K., Piore, M.J.: Innovation – The Missing Dimension, Cambridge 2004

[8] Gordon, A., Ramic, M., Rohrbeck, R., Spaniol, M.: 50 Years of Corporate and Organizational Foresight – Looking Back and Going Forward. In: Technological Forecasting and Social Change, 2020, Vol. 154

[9] Duggan, W.: Strategic Intuition – The Creative Spark in Human Achievement, New York 2007

[10] Servatius, H.G.: Personalführung im Zeitalter eines Connective Managements. In: Competivation Blog, 19.01.2021

[11] Servatius, H.G. Mit radikalen Entwicklungen gegen die Corona-Krise. In: Competivation Blog, 28.04.2020

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